Cover Meine SeeleStirb ! Rotköpfchen
© Sabine Ludwigs

An einem herrlichen Sommertag, gegen elf Uhr vormittags, haben sie unsere Jule im achteckigen Tempel der Ruhe im Bodelschwingher Wald gefunden. Sechzehn Jahre jung.

Nackt. Ohne Haare. Tot.

Sie lag in der Mitte des offenen Oktogons, dessen Kuppeldach von acht mit Efeu berankten Säulen getragen wird. Hier hatte jemand ihren Leichnam vor dem Urnensockel, der schon lange keine Urne mehr trägt, aufgebahrt. Stehen die schmiedeeisernen Torflügel zu diesem kleinen Adelsfriedhof auf, wirkt er wie die Kulisse für einen Mystery-Thriller, mit zum Teil immergrünen Baumriesen, mannshohen Büschen und gepflegten, jahrhundertealten, um den Tempel angeordneten Gräbern, die aus der Grasdecke zu wachsen scheinen.
Und nicht zuletzt wegen der massiven Grabplatt e mit den sechs eisernen Trageringen, die vor den Stufen zum Tempel in die Erde eingelassen ist. Diese Platte verschließt den einzigen Zugang zu der darunterliegenden Krypta; gleichzeitig symbolisiert sie eine Brücke zu der Welt der Toten.

Eine Diesseits-Jenseits-Brückenplatte.
An sonnigen Tagen herrschen hier schattendurchwirktes Licht, Frieden und Melancholie, und nachts völlige Dunkelheit, Stille und Unergründliches. Ein Dunst scheint in der Luft zu liegen, der den Konturen ihre Schärfe nimmt. Stets ist es um einige Grad kälter als an anderen Stellen im Wald. Und stiller. Zumindest fühlt es sich so an.
Wegen all dem zieht der versteckte Friedhof unweigerlich die Aufmerksamkeit derer auf sich, die ihn passieren; wie die des Lepidopterologen vor vier Jahren, an jenem sechsundzwanzigsten August, als er unsere Jule fand. Sie lag auf dem Rücken, die Arme neben sich, und ruhte auf einer Aufschüttung aus Laub und weichblättrigen Zweigen. Auf ihrem Körper spreizte sich ein Schwarm leuchtend blauer Großer Schillerfalter. Es waren Hunderte. Im prachtvollen Farbenspiel der Männchen ging die unscheinbare braune Färbung der Weibchen unter.
Unzählige Male habe ich versucht, mir das blaue Schillerwogen vorzustellen. Die glänzende Masse hauchdünner Schuppenflügel, ihre Farbreflexe und Zartheit. Das trockene Rascheln, wenn sie die Flügel bewegten. Es muss ein prächtiges Schmetterlingsgespinst gewesen sein, das Jule bedeckte. Geradezu märchenhaft.
Ich weiß das deshalb so genau, weil der Schmetterlingskundler es der Tratschtante Pätsch in allen Einzelheiten schilderte. Denn natürlich stand Martha Pätsch an diesem Mittwoch als eine der ersten Gaffer vor Ort. Sie, mit dem Aussehen eines begierigen, robusten Mopses, der Schlupfjeans und Sportschuhe trägt, lauerte an der Polizeiabsperrung. Und die Tratschtante kannte keinerlei Hemmungen, den Schmetterlingsmann auszufragen. Natürlich versäumte sie es nicht, das Erfahrene im Ort zu verbreiten. Zumal der Mann ein schauerliches Detail fallen ließ.
Nämlich, dass diese Falter einen besonders stark ausgeprägten Geruchssinn haben und zu den wenigen Arten zählen, die sich nicht von Blütennektar ernähren. Sie schweben an späten Vormittagen aus den Wipfeln der Bäume herab. Hinunter zu feuchtkühlen Waldrändern oder Lichtungen, wo sie sich an Wasser laben, an Exkrementen.

Und an Aas.
An totem Fleisch.
Als die Pätsch das unter die Leute brachte, tat sie es mit einem bedeutsamen Flüstern bei den letzten beiden Worten, dem Tüpfelchen auf dem i. »Totem Fleisch.« Das Flüstern wurde aufgenommen und von unsichtbaren Mündern weitergetragen. In Geschäfte, Wartezimmer, auf Plätze und Straßen. An Bushaltestellen. Auf den Markt, in Schulen. Überallhin. Man konnte es hören, ob man wollte oder nicht: »Blaue Schillerfalter … fressen … totes Fleisch.«

Flüsterflüsterflüster. Wie das leise Rascheln lichter Schillerfalterknisterflügel.
Es passte absolut in die morbide Szenerie und zu der Art, wie Jule den Tod fand: Jemand hatte seine Finger in den Hals meiner Cousine gegraben und ihr beim leisen Sterben zugesehen.
Ein Kampfsportgriff , der tödlich enden kann, wenn man ihn bis zum Ende anwendet. Ein Morote-Shime, vermuteten sie. Ich habe gehört, wie die ermittelnde Kommissarin, sie hieß Brühl, das meinen Eltern erklärte. Familienmitglieder werden ebenfalls vernommen. Reine Routine. Deshalb saß die Polizistin mit ihrer Kollegin bei meinen Eltern im Wohnzimmer. Sie tranken Eistee. Ich weiß noch, wie ätzend ich es fand, dass sie wie beim Fünfuhrtee zusammenhockten und über Jules Ende sprachen.
Morote-Shime ist das japanische Wort für diesen tödlichen Griff. Shime meint würgen, zusammendrücken. Morote heißt wohl so viel wie beidhändig. Macht zusammen Würgen mit beiden Händen. Was irreführend ist, da bei dieser Technik niemand erwürgt wird. »Nicht im wörtlichen Sinne«, erläuterte die Kommissarin. Das sagte sie tatsächlich. »Vielmehr hat der Täter sein Opfer getötet, indem er ihm an beiden Seiten des Halses fachkundig die Halsschlagadern, Carotis-Sinus, komprimierte.« O-Ton Brühl, die anteilnehmend wie eine Zerlegemaschine vorging.
Jedenfalls verhindert das anhaltende Komprimieren die Durchblutung des Gehirns. An der Gabelung der Halsschlagadern verläuft der Nervus Vagus in direkter Nähe der sich aufteilenden Arterien. In der vorherrschenden
Enge kann der Nerv nirgendwohin ausweichen. Ein starker Druck auf ihn hat unweigerlich seine Aktivierung zur Folge.
Ich habe gegoogelt, was das bedeutet. Ohne meinen Bruder Eliah, der nichts damit zu tun haben wollte. Es bedeutet, dass der Aktivierung des Nervs ein rapider Abfall von Blutdruck und Herzfrequenz folgt. Das Gehirn wird nicht mit frischem Blut und Sauerstoff versorgt. Es bedeutet, dass es binnen Sekunden zum Kreislaufzusammenbruch kommt.

Man nennt das Blutwürgen.
Ein unbekannter Abschaummann hatte Jule also nicht erwürgt, indem er ihr die Luft zum Leben nahm. Sondern das Blut. Den Lebenssaft.
Die höchste Ebene des Gehirns ist das Bewusstsein. Das verliert ein Opfer zuerst. Jule muss sofort ohnmächtig geworden sein. Es folgten sekündlich weitere Funktionsausfälle. Nach etwa drei Minuten kam es zu irreversiblen Hirnschäden. Schließlich zum Tod infolge Sauerstoffmangelschadens des Gehirns. Binnen Kurzem. Zehn Minuten. Höchstens. Wahrscheinlich weniger.
Leif hat mir das bestätigt. Ich habe ihn gefragt, weil er das als Träger des schwarzen Gurts wissen muss. Er legte es mir auseinander, ohne nachzuhaken, weshalb ich es wissen wollte. Obwohl er der zurückhaltende Typ ist, redete er sich in Begeisterung. Abschließend meinte er, JuJutsu diene der Verteidigung, nicht dem Angriff oder um jemandem zu schaden. Das sei eine der Philosophien.
Na klar. Waffen töten keine Menschen. Kampfsport tötet keine Menschen. Menschen töten Menschen. Aber eben mit Waffen oder durch Kampfsport. Deshalb suchen die Bullen nach einem Blutwürger, der Jules schulterlanges rotes Haar geschoren und mitgenommen hat.

Jedes einzelne.
Als wäre es reif zur Ernte gewesen.
Im Gegensatz zu meinem Bruder Eliah habe ich Jule vor ihrer Einäscherung nicht mehr sehen dürfen. Unsere Eltern waren in Sorge, dass ich in meinem Alter (ich war zwölf) Jules Anblick nicht verkraften könnte.
Ich gehorchte. Nicht zuletzt, weil ich ahnte, dass sie recht hatten. Eliah, er ist viereinhalb Jahre älter als ich, ging zu der Trauerfeier. Er sagte, er müsse sie noch einmal sehen, um zu begreifen, dass sie wirklich tot ist. Nachher erzählte er, dass Jule in ihrem himmelblauen Sarg auf eigenartige Weise friedlich und wunderschön ausgesehen hätte.
»Weiße Haut, haarlos, zart und zerbrechlich, als wäre sie nicht von dieser Welt. Als wollte sie uns zeigen, dass sie jetzt ein überirdisches Wesen ist«, drückte er sich aus. »Ein Wesen, das tief und fest im Schlaf liegt.«
Obwohl ich fantastische Wortbildungen, schöne Formulierungen und klangvolle Sätze liebe, fand ich es gestelzt, ja kitschig ausgedrückt. Andererseits habe ich gelernt, dass der Tod uns Seltsames tun, fühlen und denken lässt. Und manchmal spricht man es eben aus. Das kann schon mal gekünstelt wirken.
Und vielleicht war es Jule tatsächlich auf überirdische Art gelungen, zu zeigen, dass sie in unserer Nähe war. Wer kann das mit Gewissheit bestreiten?
Es hatte jedenfalls etwas von guten Mächten wunderbar geborgen, weshalb es Jules Eltern Nicole und Martin, meine Eltern und unsere Großeltern tatsächlich irgendwie tröstete. Ein winziges bisschen.
Mich tröstete verrückterweise die Tatsache, dass die schillernden Falter schneller als die Schmeißfliegen bei Jule gewesen waren, dass ihr Körper nicht von fetten, metallfarbenen Leichenfressern bedeckt war, sondern von lichten blauen Schmetterlingsflügeln.
Ich habe gelesen, Fliegen mögen die Farbe Blau nicht. Deshalb hat man in früheren Zeiten Vorratskammern und Küchen in dieser Farbe gefliest oder gestrichen. Auch Fensterrahmen und Türen. Möglicherweise ist etwas Wahres dran und das blaue Leuchten hat die widerlichen Biester von Jule ferngehalten.
Wenn die Natur ihren Lauf nehmen muss, will ich lieber von Edelschmet- terlingen aufgesaugt, anstatt von Aasfliegen gierig gefressen zu werden, die nebenher auch noch ihre Eier und Maden in mich pflanzen. Das ist für mich wie Engel und Teufel. Himmel und Hölle.
Der Tag der Urnenbeisetzung sowie die unbeschreiblichen Wochen und Monate danach gehören bis heute zu meinen schlimmsten. Das wird vermutlich bis an mein Lebensende so bleiben.
Nach Jules Tod ist natürlich vieles anders geworden. Ich leide an Angstträumen, in denen ich durch den Wald irre, verfolgt von einem Verfolger, den ich nicht sehen kann. Aber ich höre ihn. Das Rascheln seiner Schritte. Das Hecheln seines Atems. Er treibt mich auf den Friedhof zum Tempel der Ruhe.
In meinen Träumen flattern Schwärme blauer Schmetterlinge auf, handtellergroß. Hier finde ich Jule und blicke in ihr fahles Gesicht. Weinend beuge ich mich über sie. Da schlägt sie die Augen auf, und die Hornhäute darin sind wie aus Gaze. Ihr toter Blick entreißt mir Schreie, die mich aus dem Schlaf schrecken lassen.
Gott sei Dank haben die Träume abgenommen. Ganz verschwunden sind sie nie – wie auch eine unterschwellige Besorgnis meiner Mutter nie ganz verschwinden wird. Die ersten Monate waren die schlimmsten. Da ließ sie mich kaum aus den Augen und war übervorsichtig. Das hat sich glücklicherweise geändert. Sie übertreibt es nur noch selten. Aber damals habe ich das Rumgeglucke gebraucht, habe mich gern in die Arme nehmen und wiegen lassen, als wäre ich ein Kleinkind. »Er wollte ihre Haare haben. Oder?«, fragte ich einmal. Es waren ihre roten Haare, die er wollte.«

»Ja.«
»Aber warum hat er sie totgemacht?« Diese Frage traute ich mich nur leise zu stellen.
»Ich kenne den Grund nicht«, hatte sie zurückgeflüstert. »Beim besten Willen nicht. Wer weiß, was in Menschen vorgeht, die so etwas tun. Oft genug wissen sie es selbst nicht. Es passierte eben, sagen sie. Es passierte eben, und auf einmal lag sie da und war tot.«
Ich versuchte, das nachzuempfinden. Aber wie stellt man sich Unvorstellbares vor? Hinter meiner Stirn, in meinem ganzen Kopf, summte es wie Strom in den Leitungen der Hochspannungsmasten, laut und immer lauter. Ich meinte, Mama müsste es hören. Und noch heute, wenn ich hin und wieder anfange, darüber nachzudenken, summt es in meinem Kopf.
Manchmal stehen am Waldrand neue Kerzen oder es liegen frische Blumen da. Anfangs häuften sich hier über Wochen Stofftiere, Blumensträuße, Kerzen und Schildchen, auf denen stand, dass man Jule nie vergessen würde, dass man sie vermisste, und auf denen man sich ebenfalls die ratlose Frage nach dem Warum stellte.
In der Schule und der Nachbarschaft wussten die Leute kaum, wie sie sich unserer Familie gegenüber verhalten sollten. Das war seltsam. Entweder taten sie krampfhaft so, als wäre nichts geschehen, oder wichen uns verlegen aus, falls sie nicht vor Mitleid zerflossen. Nur wenige fanden ein erträgliches Mittelmaß, mit dem sie uns begegneten. Die meisten waren jedoch genauso hilflos wie wir. Es dauerte lange, bis so etwas Ähnliches wie Normalität einsetzte.
Am längsten natürlich bei meiner Tante Nicole und Onkel Martin, Jules Eltern. Sie lebten wie unter einer Totenglocke. Schließlich zogen sie in die Nachbarstadt Lünen. Sie nahmen sich eine Wohnung in der Innenstadt und wohnen seitdem am Ufer der Lippe statt am Waldrand. Direkt an der Promenade mit der terrassenförmigen Treppenkaskade, die bis zum Wasser hinunterführt. Bei schönem Wett er kann man auf der untersten Stufe sitz en, mit den Füßen im Wasser, und Wasservögeln zuschauen. Oder Leute beobachten, die über die Brücke flanieren, welche die Fußgängerzonen auf beiden Seiten des Flusses miteinander verbindet.
Hier gibt es naturbelassene Ufer und Büsche. Keinen Wald. Nur den Tobiaspark, der vor etwa vierhundert Jahren als Pest- und Fremdenfriedhof angelegt wurde. Einige alte Gedenksteine existieren noch. Der Erste, der hier bestattet wurde, war ein Soldat namens Tobias, hat Nicole gesagt. Er wurde zum Namensgeber. Außerdem gibt es in Lünen Restaurants, Eisdielen, das Cineworld auf der gegenüberliegenden Flussseite von Nicoles Wohnung sowie das Altstadtviertelchen mit einigen schiefen Fachwerkbauten.
Nicole lebt gern hier. Lünen erscheint ihr gerade weit genug entfernt, um neu anzufangen. Doch gleichzeitig nah genug, um jederzeit Jules Grab auf dem Waldfriedhof auf dem Bodelschwingher Berg besuchen zu können.
Auslöser für den Umzug war Nicoles unerwartete Schwangerschaft, über die sie und Martin ähnlich fassungslos waren, wie Maria und Josef es über die Unbefleckte Empfängnis gewesen sein müssen. Am letzten Tag im Juni kam Benjamin zur Welt, zweiundzwanzig Monate nach Jules Tod.
Damals verübelte ich Nicole und Martin dieses Abhauen, wie ich es insgeheim nannte. Aus heutiger Sicht muss ich zugeben, dass es die richtige Entscheidung für sie gewesen ist: wegzugehen von dem Ort des Verbrechens und ja, auch Jules Zimmer nicht wie einen Schrein zu erhalten und zu versuchen, sie darin zu konservieren. Andernfalls wären diese zwei Menschen vollends zerbrochen.
Und was wäre dann aus Benny geworden, Jules Brüderchen, das ihr kein bisschen ähnelt? Diesem ungeplanten Baby, von dem die Eltern behaupten, es wäre ihr Lebensretter. Sie glauben, seine Schwester sei ein Schutzengel.
Zur Zeit ihres Fortziehens gab es in den Zeitungen schon seit Längerem keine Berichterstattungen über das Verbrechen an Jule mehr. Sogar die Anrufe der Kriminalpolizei wurden weniger, weil neue Informationen über die Ermittlungsergebnisse ebenfalls rarer wurden. Bis sie am Ende ganz ausblieben, ohne dass Jules Mörder gefasst werden konnte. Aber der, meinten die meisten Bodelschwingher, der kam mit Sicherheit von außerhalb und war längst wieder über alle Berge. Es konnte unmöglich jemand von hier sein, keiner von uns. Das war ausgeschlossen.
Für mich hörte sich das stimmig an. Andere hielten vorsichtig dagegen, dass der Mörder aus der Gegend stammen musste. Zumindest war er ortskundig. Wer sonst würde in den Weg zum Adelsfriedhof einbiegen, auf den kein Schild hinweist? Wer sonst könnte vom Tempel der Ruhe wissen? Nur Leute, die hier wohnen. Insider eben.

Auch das klang einleuchtend.
Andererseits könnte es ebenfalls jemand gewesen sein, der den dunklen Waldweg rein zufällig entdeckt hatte und abgebogen war, weil er einsam wirkte. Eine ideale Stelle, um nicht plötzlich aufgestöbert zu werden. Und es gab auch noch das Internet, falls man einsame Orte suchte …

Alles war möglich.
Dann, zwei Jahre nach Jules Tod, im Juli, fanden Spaziergänger mit ihrem Hund ein weiteres totes Mädchen auf einem Laubbett inmitten der Säulen des Tempels. Ohne Kleider. Ohne Haare. Ohne Leben. Äußerlich unversehrt. Bis auf die Blutwürgemale.

Die gleichen wie bei Jule. Nur, dass diesmal niemand wusste, wer sie war.
Wieder raste eine Armada Polizeifahrzeuge, ziviler Einsatz wagen und Notarztwagen zum Ort des Geschehens. Mit zuckenden Blaulichtern zwar, aber ohne Sirenen. Wieder gab es Absperrgitter, rotes Licht, rot-weißes Polizeiband, Hunde, aufgeregte Stimmen. Und wieder türmten sich am Waldsaum Stofftiere, Blumen, Teelichter und Schilder, auf denen stand: WARUM?
Sicher, keiner von uns kannte das Mädchen. Im Rewe-Markt erzählte Martha Pätsch, sie solle eine Roma gewesen sein, die sich allein herumgetrieben habe. »Eine Zigeunerin«, wie die Pätsch aus sicherer Quelle erfahren haben wollte und beim Anstehen an der Fleischtheke laut herausposaunte, »eine vonne Bettelsoarte!«
Bettelsorte! Als machte das einen Unterschied. Wie Jule war sie ein Mädchen, das sein Leben sinnlos verloren hatte. Zurück blieb nur ihr toter Leib.

Und ein abgeernteter Kopf.
In den Zeitungen stand, dass man aufgrund der radiologischen Befunde ihr Alter auf fünfzehn bis sechzehn schätzte. Ihre Ohrläppchen waren für Stecker durchstochen. Ihre Nationalität hatt e man nicht feststellen können. Sie war jedoch eindeutig ein keltischer Typ. Mit heller Haut und rotem Haar.
Offenbar wurde sie nicht vermisst. Sie muss eine Ausreißerin gewesen sein, jedenfalls machte keiner sich die Mühe, nach ihr zu suchen. Vielleicht hatte sie auch niemanden mehr. Jedenfalls stand wohl fest, dass Jule und die unbekannte Tote demselben Mörder zum Opfer gefallen waren. Es musste einer sein, der hier auf seinen Durchfahrten vorbeikam, meinte man. Womöglich regelmäßig. Der sich zurechtfand und sicher fühlte, weil niemand ihn kannte. Und der sich auf der gewundenen Waldstraße im Brodem der Bäume in ein Monster verwandelte, das Appetit auf Mädchen mit roten Haaren verspürte.

Das uralte Böse des Krüzlohs.
Ein Wolf, der es auf Rotschöpfe abgesehen hatte, wie eine große Zeitung ebenso reißerisch wie richtig titelte. Sie berichtete ausgiebig über die Verbrechen.
Stoff gab es zur Genüge. Da waren die Mädchen, deren Mörder sie vom Weg abgebracht hatte, in den Wald hinein, zu einem einsamen Ort. Wo er über sie herfi el und sie abschließend auf einem alten Friedhof aufbahrte.
Auch um den Adelsfriedhof ranken sich seit jeher unheimliche Geschichten, die jetzt in dem Artikel wieder aufgewärmt wurden. Es wird erzählt, dass sich dort vor der Begräbnisstätte ein heidnischer Gerichtsplatz befunden hat, den zu betreten der erste entsandte Missionar den neuen Christen verbot. Ein riesiges Holzkreuz wurde errichtet. Bestimmt ragte es wie ein mahnender Finger Gottes empor. Bald nannte man die Flur mit dem Kreuz vor dem Wald Krüzloh, den Kreuzwald. Und binnen Kurzem behaupteten die Christen, das Böse ginge dort um.

Die Zeit verging. Das Kreuz zerfiel. Menschen kamen und gingen. Das Böse blieb.
Und manch einer will ihm in Gestalt eines Wolfes begegnet sein.
Dieser widerliche Rotschopfartikel war der letzte ausführliche Bericht über die Verbrechen. Schneller als bei Jules Tod ließ das Interesse an dem zweiten Mädchenmord nach. Bis es ganz versiegte, und wir am Ende nur noch hofften, der Mörder möge für alle Zeiten einen weiten Bogen um unseren Wald machen, wenn man ihn schon nicht schnappte.

Und auf keinen Fall, wie in der Vergangenheit, nach zwei Jahren auf leisen Pfoten zurückkehren. Hungrig und böse.…