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Mord ist Sport

Mord ist Sport
©von Sabine Ludwigs

Ich finde den Wald kurz vor Sonnenaufgang am schönsten. Wenn die Dämmerung hereinbricht, die ersten Vögel singen und die letzten Fledermäuse in hohlen Bäumen verschwinden. Der frischwürzige Duft von Walderde hängt in der Luft. Dunstschwaden steigen auf, märchenhaft schön. Tautropfen glitzern unter zaghaften Sonnenstrahlen. Die Welt kann so friedlich sein!

Genau hier hatte ich vor Jahren mein erstes Wild geschossen. Einen Jährling mit fünf Zentimeter Spießchen. Es war ein Blattschuss, ein Treffer durch das Schulterblatt ins Herz. Obwohl das Böckchen zu Boden ging, war es nicht sofort tot. Seine Läufe bewegten sich, als könne es dem Unausweichlichen davon rennen, während sein Blut dampfend auf die Wiese rann. Zweimal entrang sich seiner Kehle ein Klagelaut. Die großen, dunklen Augen glänzten feucht. Schließlich verebbte das Schlegeln und Zucken.

Stolz brach mein Großvater einen grünen Eichenzweig und tauchte ihn in das Blut des Stückes. Der traditionelle Bruch!

„Entweder du willst mit Leib und Seele Jägerin sein — oder nicht, Diana.“

Ich sah das Funkeln in Großvaters Augen und hörte die Leidenschaft in seiner Stimme. Er hoffte, ich wäre anders als das Weichei. Sein Sohn. Mein Vater, der fand, dass es für die mutwillige Vernichtung von Tieren nicht die geringste Rechtfertigung gab, da sie viel eher in diese Welt gehörten als das schlimmste Raubtier aller Zeiten. Der Mensch.

Ich warf einen Blick auf den niedergestreckten Bock, erinnerte mich an sein letztes Keuchen und wusste in diesem Augenblick, was ich wollte. Ich sagte es ihm: „Ich will jagen.“

Großvater lachte: „ Waidmannsheil, Mädchen!“ Er steckte mir den Eichbruch an die rechte Seite des Hutes.

„ Waidmannsdank.“

Nein, solch ein Erlebnis vergisst man auch nach Jahren nicht!

Ein Rascheln unter dem Hochsitz ließ mich aufmerken. Ein Rotfuchs kehrte heim. Ich konnte ihn durch das Zielfernrohr meiner RB2003 Mannlicher Schoenauer perfekt sehen. Seine Ohren ständig in Bewegung, schnürte er an meinem Versteck vorüber. Vor seinem Bau verharrte er und schaute sich noch einmal verstohlen um, bevor er in dem Erdloch verschwand. Ich hatte ihn minutenlang im Fadenkreuz, doch war nicht er die Beute, nach der ich Ausschau hielt.

Ein bunter Eichelhäher stob unter warnendem Gekrächze auf. Hatte er mich entdeckt und verraten? Nein, es musste etwas anderes gewesen sein. Geduldig beobachtete ich das Revier, während meine Gedanken wieder in die Vergangenheit reisten.

Mein Großvater war ein begeisterter Jäger gewesen, der mich das Waidwerk lehren wollte. Ich musste mich oft übergeben, wenn ich zuschaute, wie er Wild aufbrach um es auszuweiden. Auch der gebrochene Blick eines erlegten Tieres bedrückte mich. Wie schnell sich die Augen nach dem Tod verändern! Die Pupillen weiten sich, bis sie fast die ganze Iris ausfüllen, dann erstarren sie und schauen ins Nichts. Kurz darauf werden sie trübe, als wenn sich ein Nebel über sie legen würde.

Am schlimmsten war es, wenn Großvater ein Tier verwundete und dieses, fast menschliche Schreie ausstoßend, floh, um irgendwo zu verenden. Es sei denn, unsere Suche war erfolgreich, und wir fanden es zeitig genug, um ihm den Gnadenschuss zu verpassen.

Das ist wohl ein Grund, warum einige Menschen die Jagd als grausam bezeichnen und sie einen blutigen Sport nennen.

Doch die Jagd ist ein Muss!

Warum, erklärte mir der alte Mann schon früh. Seine Stimme klingt mir noch in den Ohren: „Jagd ist Naturschutz, Diana! Die Wildtierbestände müssen vom Menschen reguliert werden. Wenn es von einer Art zuviel gibt, dann muss man sie reduzieren, sonst werden sie zur Plage. Deswegen ist der Jäger eine Notwendigkeit. Heuer gibt es zu viele Wildschweine, deshalb werden sie zum Abschuss freigegeben.“

Damals waren wir auf dem Weg zur Kirrung gewesen, einer Futterstelle auf einer Rodung, direkt am Schussturm. Dort angekommen schüttete Großvater Futterrüben, Mais und Salz auf den Boden, um die Wildschweine zuzufüttern. Die Rotte wuchs und gedieh. Wenn die Jagdsaison begann, kam das Schwarzwild gewohnheitsmäßig zur Kirre. Während die Tiere ahnungslos fraßen, standen sie den Jägern auf ihren Türmen abschussgerecht vor den Flinten.

Großvater war der Ansicht gewesen, dass man die schwächeren Bachen einer Rotte abschießen sollte, sobald ihr Wurf sechs Monate alt war. Wenn man die gebärfreudigen Bachen statt der Frischlinge erlegte, würden sich die Wildscheine nicht so rasch vermehren. Das Anwachsen des Schwarzwildes hatte nichts mit den Fütterungen durch die Jäger zu tun, behauptete Großvater. Da irrten diese radikalen Tierschützer mit ihren Parolen: `Jagd ist Mord!´ Diese Vollidioten!

Heute weiß ich, dass er Recht hatte, auch, wenn es sich grausam anhört. Die natürliche Population funktioniert nicht ohne das Eingreifen des Menschen.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ein Achtender auf die Lichtung trat. Ein prachtvoller Hirsch, der zum Bach ging. Wachsam sah er sich um, erfahren genug, um zu wissen, dass er nie ohne diese Vorsicht saufen oder äsen konnte.

Ich justierte das Fernrohr. Das Tier wandte den Kopf in meine Richtung. Es konnte mich unmöglich gesehen haben, auch der Wind stand günstig, sodass der Bock mich mit Sicherheit auch nicht gewittert hatte. Dampf stieg aus seinen Nüstern auf. Er stampfte nervös mit den Hufen, bevor er trank.

„Peng!“, flüsterte ich. „Chancenlos – du wärst tot.“ Dabei hatte ich ihn noch nicht einmal mit Sexualduftstoffen angelockt, er war mir einfach so vor den Lauf spaziert. Doch ich war nicht auf Rotwildjagd.

Der Hirsch schüttelte das Geweih, ein Stück Bast fiel ab. Schließlich verschwand er zwischen den Bäumen. Für diesmal war er mit dem Leben davongekommen.

Eine Bache brach grunzend durch das Unterholz, vier muntere Frischlinge im Schlepptau. Quiekend durchwühlten sie den Waldboden. Ich hatte den borstigen Kopf der Sau exakt im Visier, meinen Finger am Abzug.

Für einen Moment hielt ich den Atem an. Von hier oben, gut getarnt und mit dieser handgefertigten Büchse, wäre der Abschuss ein Kinderspiel! Großvater hatte immer gesagt, dass sie nichts merken, wenn ich sie mit dem ersten Schuss erwische. Und das tat ich stets. Jedoch nie mit Kopfschuss.

Ich brauchte unversehrte Häupter für meine Trophäensammlung.

Großvater hatte auch eine besessen. Im Jagdzimmer, gleich neben der Küche. Ein Raum voller Geweihe, Schädel, kleinen Säugetiere und Vögel. Die Tiere mussten von einem Stümper ausgestopft worden sein – es waren miserable Arbeiten, die teilweise sogar unangenehm rochen.

Meine Präparationen sind Meisterwerke. Von Beruf bin ich Tierpräparatorin. Es macht mir Spaß, den Beutestücken einen Teil ihrer Lebendigkeit zurückzugeben.

Diese Trophäen wirken vital, jedes Härchen an ihnen ist wohlgeordnet und glänzt. Besonderen Wert lege ich auf realistische Köpfe. Ich verwende viel Zeit darauf, und die Mühe lohnt sich! Sie strahlen eine Natürlichkeit aus, die ans Unheimliche grenzt. Die Glasaugen wirken täuschend echt, scheinen zu funkeln, als ob sie jeden Moment blinzeln würden. Man kann die Stücke nicht von lebendigen Wesen unterscheiden, gäbe es nicht den Umstand, dass lediglich ihre Häupter an der Wand hingen. Die Sammlung ist mit Sicherheit einzigartig!

Eine flüchtige Bewegung holte mich aus meinen Erinnerungen.

Ein Frischling schob sich vor das Muttertier. Die Bache wurde unruhig, schlug sich plötzlich mit den Jungen in die Büsche. Zwischen den Sträuchern, direkt hinter einem umgestürzten Baum, tauchte mein Wild auf.

Der Keiler tappte behäbig auf die Lichtung, schien ein wenig unsicher auf den Beinen. Ein großer Bursche! Im besten Alter und, wie es aussah, vollkommen gesund. Vielleicht ein wenig zu fett. Auf jeden Fall unvorsichtig.

Fiebrige Aufregung breitete sich in mir aus. Ich spürte, wie mein Atem sich beschleunigte. Adrenalin schoss mit meinem erhöhten Herzschlag durch die Adern, schärfte mir die Sinne.

Meine Beute stapfte langsam auf die Stelle zu, wo eben noch das Schwarzwild gepflügt hatte. Dann verschwand er hinter ein paar Tannen. Als er wieder auftauchte, hielt ich die Luft an, bewegte nicht einmal ein Lid, war mit dem Zielfernrohr verbunden, als wäre es ein Teil von mir. Ein Schuss. Nur ein Schuss ... `Komm näher`, dachte ich. `Nicht dort lang. Hier rüber! So ist es gut.´ Nun blieb er stehen, spähte zum Schussturm hinauf.

Mein rechtes Auge zuckte. Ein nervöser Impuls.

Er wandte sich ab und trottete auf einen Wildpfad zu. Wenn er weiter ging, käme er dem anderen Hochsitz so nahe, dass man mir das Stück ohne Bedenken vor der Nase wegschießen würde! Genau, wie beim letzten Mal ...

`Nein, komm her. Mach schon, Bursche!` Ich presste die Lippen aufeinander. `Verdammt, her zu mir!`

Als hätte er meine Gedanken gehört, drehte er sich in meine Richtung. So stand er mir schutzlos ausgeliefert in der Schusslinie und ich zögerte nicht!

Eine Kugel verließ den kalten Lauf der Büchse, schien in Zeitlupe auf ihr Ziel zuzusteuern. Das Kupfergeschoss glitzerte wie pures Gold und fraß sich dann durch die breite Brust in sein Ziel. In einer kleinen Fontäne spritzte Blut hervor. Wie vom Donner gerührt stand der Keiler da. Tödlich getroffen starrte er zu mir, begriff, ging hilflos in die Knie. Er sackte zur Seite, blieb liegen und schlug aus. Sein Brüllen war erstaunlich laut, es scheuchte ein paar Vögel auf, aber währte nur kurz.

Mitten ins Herz! Ein Meisterschuss. Mit Sicherheit hatte ich die Blutgefäße zerfetzt, oder so weit geöffnet, dass er rasch verbluten würde. Der hypervaskuläre Schock, der dem plötzlichen Blutdruckabfall in Körper und Gehirn folgte, setzte bereits vor dem Tod einige Hirnfunktionen außer Kraft.

Ich wusste, dass das Blut in den schwer zu durchpumpenden Gefäßen sofort stockte. Weil die höheren Empfindungen zuerst nachlassen, ist die Zeit bis zum Hirntod für das Opfer schmerzfrei. Weitestgehend.

Die Schmerzdauer dürfte nur wenige Sekunden betragen. Theoretisch.

Keine Qualen. Vermutlich.

Flink kletterte ich vom Hochsitz, eilte über die Lichtung und war schon bald bei meiner Beute. Ich ließ mich nicht von Körperbewegungen wie Zucken und um sich schlagen, beirren. Es handelte sich lediglich um niedere Funktionen, die unbewusst erzeugt wurden.

 Ich kniete nieder. Sein Jagdgewehr, ebenfalls eine Mannlicher Schoenauer, lag neben ihm. Der Hut mit dem gerupften Gamsbart war ihm vom Kopf gerutscht, gab einen leicht angegrauten Schopf frei. Auf seiner grünen Lodenjacke breitete sich schnell ein dunkler, feuchter Fleck aus. Ich konnte riechen, dass er Alkohol getrunken hatte. Jägermeister.

„Hallo“, sagte ich leutselig. „Nun erzähl mir doch mal, ob die Beute wirklich nicht leidet, nach so einem Treffer? Ist sie tatsächlich schmerzfrei? Was ist mit Angst?“ Bernd Keiler war nicht in der Lage mir zur antworten. Er stierte mich nur an, ein Gurgeln kam aus seiner Kehle, blutiger Schaum trat aus. Die Lunge war verletzt, würde bald zusammenfallen.

„Mach dir keine Sorgen, ich habe ein platzendes Zerlegungsgeschoss genommen. Dadurch wirst du schnell verbluten, und dein Leiden deutlich verkürzt. Aber das weißt du ja.“

Er blubberte mit roten Bläschen auf den Lippen, griff ein paar Mal ins Leere. Ich lächelte. „Stell dir vor, ich wäre niederträchtig und hätte ein hartes Geschoss verwendet. Dann würdest du noch länger hier liegen und könntest darüber nachdenken, dass es zu viele deiner Art gibt. Das schadet der natürlichen Population, deswegen muss man den Bestand regulieren.“

Er sah mich flehentlich an, verstand offenbar nicht, wovon ich sprach. Seine Pupillen wurden riesig, breiteten sich wie Tintenkleckse in der hellblauen Regenbogenhaut aus.

„Und da kenne ich eine sehr wirksame Methode, Bernd. Die Jagd! Es ist ein erstaunlich kleiner Schritt vom Erlegen eines Tieres zum Töten eines Menschen. Viel weniger aufreibend, als man denken würde. Mord ist Sport, nichts weiter.“

Seine Beine schlugen unkontrolliert aus. Unbedeutende Reflexe. Kurz darauf lag er still. Ich sah zu, wie der Nebel in seine Augen stieg.

Die Jagd ist ein Muss und kein Blutsport. Bernd Keiler war mein sechstes erlegtes Stück - neben Martin Klug, Peter Schnitter, Karl-Heinz Oberst, Renate Kranz und Großvater. An der Wänden meines Jagdzimmers würde Keilers Kopf sich gut zwischen den Häuptern der anderen machen.

Es war nicht einfach gewesen, so blaue Glasaugen zu finden. Aquamarinblau. Aber es war mir gelungen, und sie warteten zu Hause auf ihre Verarbeitung.

Ich zog ein langes, schweres Messer hervor. Das Waidblatt verfügte über eine ausgezeichnete Schlagwirkung. Wie geschaffen, um den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Kaum hörbaren Schritte ließen mich aufblicken. Der Jägersmann trat neben mich: „Diesmal war das Glück auf deiner Seite. Ein guter Schuss! Ich glaube, wir haben dem Naturschutz in diesem Revier gute Dienste erwiesen. Die Bestände seiner Art haben wir in letzter Zeit deutlich dezimiert.“

Er brach einen Fichtenzweig, tauchte ihn in das Blut und steckte ihn mir an den Hut. „ Waidmannsheil!“

„Waidmannsdank, Vater.“

 

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