Cover - Im Angesicht des LebensMonssa
© Sabine Ludwigs
Nachmieter gesucht!, stand in der Zeitung.50 qm, DG, 2 Zimmer, Küche, Diele, Bad € 380, zzgl. Nebenkosten. Ab 01.10. zu vermieten. Telefon ....
„Genau das, was ich suche“, murmelte Rena. Sie wählte die angegebene Rufnummer.
„Schlichter.“
„Hallo, hier spricht Huber. Ich rufe wegen der Annonce an. Sie suchen einen Nachmieter?“
„Ja, stimmt“, antwortete eine ältere Frau. „Die Wohnung ist noch frei. Möchten Sie sie einmal ansehen?“
Rena wollte. Sie verabredeten sich für den Nachmittag.
„Klingeln Sie bei Heidemann. Das ist meine Mutter. Ihr gehört die Wohnung.“

Das alte Haus sah gepflegt aus. Sechs Wohnungen, ein großer Garten, davor ein Parkplatz. Alles tadellos in Schuss.
Auf ihr Läuten wurde sofort geöffnet.
Einen Aufzug gab es nicht, doch das Treppenhaus war sauber und hell.
Rena wurde von einer adretten Dame erwartet.
„Frau Huber?“
„Ja. Guten Tag.“
Die Frau lächelte und bat sie mit einer einladenden Geste herein. Umzugskartons standen herum. Eine Kaffeemaschine brodelte im Hintergrund. Auf dem Sofa saß eine alte Frau und sah ihnen neugierig entgegen.
„Das ist meine Mutter. Sie hatte vor drei Monaten einen Schlaganfall. Wir fanden sie zufällig. Oben, vor der Speichertür. Gott sei Dank hat sie sich ein bisschen erholt, trotzdem möchte ich nicht länger, dass sie hier allein wohnt. Schon die vielen Treppen sind ein Problem! Seit unsere Kinder aus dem Haus sind, haben mein Mann und ich viel Platz. Da kann sie gut bei uns leben, nicht wahr, Mutter?“
Frau Heidemann nickte.
Rena begrüßte sie. Der schiefe Mund der Alten verzog sich zu einem Lächeln.
„Bitte, sehen Sie sich ruhig um“, forderte Frau Schlichter sie auf. „Ich hoffe, es stört nicht, dass wir beim Packen sind?“
„Nein, gar nicht.“
Es war eine gemütliche Wohnung, mit Dachschrägen und neuen Fenstern. Das Badezimmer sah frisch renoviert aus. Die Küche war klein, aber ausreichend für eine Person. Schön.
„Setzen Sie sich ins Wohnzimmer, ich hole den Kaffee.“
Rena setzte sich der alten Frau gegenüber in einen Sessel. Die linke Gesichtshälfte der Greisin hing ein wenig herab, ihre Hände zitterten. Sie fixierte Rena eingehend.
„Seit dem Anfall hört meine Mutter schlecht, und sie redete eine Zeit lang ziemlich wirres Zeug“, rief Frau Schlichter aus der Küche.
„Ach ja?“
„Hmm. Erst wollte ich sie in ein Pflegeheim geben. Aber dann habe ich Mutter erklärt, dass sie aufhören muss solche Dummheiten zu erzählen, weil sie sonst nicht bei uns bleiben kann. Seitdem ist es viel besser geworden. Gott sei Dank haben sich auch Veronika und Franz um Mutter gekümmert. Das Hausmeisterehepaar. Die Drechslers wohnen gegenüber. Nette Leute!“
Die Alte beugte sich vor. „Monssa“, flüsterte sie mit verwaschener Stimme und lugte vorsichtig zur Küchentür.
„Di..e ... Monssa!“, wiederholte sie, „ ..ben ... ei. ... .in d ... auffm ... .achboon ... ver..eck. ... bö ... se ... Monssa!“
Entgeistert starrte Rena sie an. Speichel tropfte der Frau von den rissigen Lippen und die Anstrengung zu sprechen war ihr deutlich anzusehen.
Frau Schlichter kam herein, stellte das Kaffeetablett ab und wischte ihrer Mutter mit einer Serviette den Mund ab. „Ich habe den Zucker vergessen.“ Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und eilte noch einmal hinaus. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, zeigte die alte Frau mit einem bebenden Zeigefinger zur Decke hoch. Ihr Blick war flehend, die Stimme verzweifelt. „Auffm ... achboon ... wiklisch ...“, nuschelte sie und wurde von ihrer Tochter unterbrochen.
„Mama, du redest doch hoffentlich nicht wieder Unsinn?“
„Nein, nein“, widersprach Rena hastig.
„Sie kann noch nicht deutlich sprechen. Aber das wird schon wieder.“ Sie schenkte Kaffee ein.
„Wie gefällt Ihnen die Wohnung, Frau Huber? Möchten Sie sie haben?“
Die Greisin wackelte mit dem Kopf.
„Ja, ich nehme sie“, erklärte Rena.
„Wunderbar!“ Frau Schlichter war erfreut. „Es ist ein ruhiges Haus mit freundlichen Bewohnern. Sie werden es nicht bereuen.“
Die Alte schloss erschöpft die Augen. Tränen sickerten unter den Lidern hervor.
 
Zwei Tage nach ihrem Einzug lernte Rena die Drechslers kennen.
Sie war eine kleine, pummelige Frau mit blondierten Haaren und Dauerwelle, er ein massiger Riese mit schwieligen Händen und spärlichem Haarkranz. Das Ehepaar stand vor Renas Tür. Frau Drechsler überreichte einen Sandkuchen.
„Herzlich Willkommen in der Hausgemeinschaft, Frau Huber“, sagte der Hausmeister. Er sah ihr nicht ins Gesicht, sondern hielt den Blick gesenkt. Seine Frau lächelte liebenswürdig.
„Hoffentlich fühlen Sie sich wohl bei uns. Wie die alte Frau Heidemann. Sie hat so gerne hier gewohnt.“ Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
„Danke sehr. Kommen Sie doch herein.“
“Ach Gott, nein. Ein andermal, wenn Sie eingerichtet sind“, wehrte die Hausmeisterfrau ab.
„Wenn Sie Hilfe brauchen oder Fragen haben“, sie kramte einen Zettel aus ihrem Kittel, „klingeln Sie oder rufen den Franz einfach an. Er wird Ihnen helfen.“
„Da gibt es tatsächlich was. Ich hätte gerne den Speicherschlüssel, um ein paar Kisten abzustellen.“
“Das geht leider nicht. Da oben liegen Werkzeuge und Ersatzteile für die Hausmeisterei. Zutritt nur für den Hauswart! Aber jeder Mieter hat einen Keller. Ihrer ist der letzte auf der linken Seite. Ich helfe Ihnen nachher die Kisten runterzutragen, Fräulein Rena.“
Sie bemerkte, dass der ältere Mann sie schon beim Vornamen nannte, und fühlte sich sofort ein weniger heimischer.
“Danke! Das ist sehr freundlich.“
„Ach, und legen Sie sich besser ein, zwei Ersatzsicherungen hin, Fräulein. Das ist ein altes Haus mit seinen Mucken, da knallt schon mal eine Sicherung durch.“
Wirklich nett, die Drechslers.
Bald waren auch die anderen Mieter keine Fremden mehr. Im Erdgeschoss lebten die Bergs, ein ruhiges, älteres Ehepaar. Herr Meininghaus ging oft mit seinem Dackel spazieren und hielt gern ein Schwätzchen. In der Wohnung unter Rena wohnte die junge Familie Schön, mit zwei kleinen Jungens. Oft hörte sie die Kinder juchzend und schreiend durch die Wohnung tollen. Es hallte ihm ganzen Haus. Herr Schlegel war Versicherungsvertreter, und so gut wie nie zu Daheim.  Rena war froh über die angenehmen Nachbarn.

Das Telefon läutete am frühen Abend.
„Rena Huber.“
Stille.
Dann ein Keuchen und Schnaufen.
`Irgendein ein perverses Schwein`, dachte sie ärgerlich, wollte schon auflegen, als eine Stimme abgehackt und undeutlich hervorpresste:
„Di..e ... Monssa ..ben ... ei. ... .in d ... auffm ... .achboon ... ver..eck. ... bö ... se ... Monssa!“
Sie bekam einen trockenen Mund, musste sich räuspern, bevor sie sprechen konnten.
„Frau Heidemann?“
„Aa, .eideman ... .achboon ... Monssa“, mühte sich die alte Frau mit den Worten, die nicht über ihre gelähmten Lippen kommen wollten. Rena hörte ihr hilfloses Weinen.
„Beruhigen Sie sich!“
„.in d ... auffm ... achboon ... Monssa“
Es wurde aufgelegt.

Als Rena Samstagmorgen beim Frühstück saß und in aller Ruhe die Tageszeitung las, hörte sie Schritte auf dem Speicher.

Leise, schleichende. Ihr wurde bewusst, dass sie schon eine ganze Weile unterschwellig wahrgenommen hatte, wie jemand da oben herumlief. `Franz`, dachte sie flüchtig. Sie widmete sich wieder ihrer Zeitung, als es an der Tür klopfte.

Drechsler stand im Flur. Er gab ihr den neuen Briefkastenschlüssel und fragte, ob alles in Ordnung sei. Veronika wischte das Treppenhaus, winkte ihr zu.
Das Tappen auf dem Boden hörte auf. Es war mucksmäuschenstill.
„Alles bestens“, sagte Rena.
Als Franz gegangen war, hörte sie die Schritte erneut.
Obwohl die Oktobersonne in die Küche schien, fühlte Rena sich unbehaglich.

Sie rief regelmäßig bei Rena an. Wahrscheinlich immer dann, wenn sie allein oder unbeobachtet war.

Rena brachte es nicht über sich Frau Heidemanns Tochter von den Anrufen zu erzählen. Die Verzweiflung der Greisin rührte sie. Aber da war noch etwas: Sie hätte es nicht logisch erklären können, doch sie hatte das Gefühl, dass es wichtig war, was die Frau ihr zu sagen versuchte.
Rena glaubte nicht an eine Verwirrtheit.
Sie konnte hören, was für große Mühe sich die Greisin gab, um die Silben deutlich auszusprechen. Immer dieselben! Oft genug brach sie in Tränen aus, weil es ihr nicht gelang. Rena kannte den Satz auswendig, sooft hatte ihn die Alte hervorgewürgt:
„Di..e ... Monssa ..ben ... ei. ... .in d ... auffm ... .achboon ... ver..eck. ... bö ... se ... Monssa!“ Als wollte sie Rena vor etwas warnen.
Aber wovor?

In der Nacht wurde Rena von einem Poltern geweckt. Danach herrschte Stille. Dann fing das Heulen an.
Der Ton schnitt durch die Finsternis, schraubte sich immer weiter in die Höhe, bis es nur noch ein schriller Schrei war.
Rena zog sich die Decke über den Kopf, dann lag sie wie erstarrt da. Plötzlich war sie wieder zehn Jahre alt, aus einem bösen Alptraum erwacht und ihr logisches Denken war verloren gegangen. Ihr Körper war schweißnass. Sie hatte noch nie einen so unheimlichen Laut gehört. Nichts und niemand hätte sie dazu bringen können unter der Bettdecke hervorzukommen.
Das durchdringende Gellen steigerte sich zu einem aberwitzigen Crescendo, hatte nichts Menschliches an sich. Was für eine Kreatur gab Laute wie eine Banchee, eine Todesfee, von sich?
Ein plötzliches Brüllen übertönte die Schreie. Türen knallten. Scharren.
Dann war es ganz ruhig.
Endlich schaltete sie die Nachttischlampe an. Das Herzrasen ließ nach, ihr Atem beruhigte sich.
Bis die Schritte auf dem Speicher ihren ruhelosen Lauf wieder aufnahmen.

Die Montage waren meist anstrengende Tage im Kindergarten, denn viele der Kleineren hatten nach dem Wochenende Heimweh und weinten.
Trotzdem fand Rena Zeit ihrer Freundin und Kollegin Anja von den seltsamen Vorkommnissen zu erzählen. Schweigend hörte Anja sich die Geschichte an. „Klingt tatsächlich nach einer Banchee!“, neckte sie Rena. „Irgendetwas hockt auf deinem Dachboden und schreit. HUHU“. Sie lachte.
„Ein Monssa,“ kicherte der kleine Patrick, dem sämtliche Vorderzähne fehlten, was seiner Aussprache etwas Zischendes verlieh.
Rena sprang auf. „Was hast du gesagt?“, fragte sie so aufgeregt, dass der Junge sich hinter Anja versteckte.
„Monssa“, flüsterte er. „Da iss ein Monssa auffem Dachbohn.“
„Nein, Patrick“, beruhigte Anja ihn und nahm den Jungen auf den Arm. „Du weißt doch: Es gibt keine Monster.“
Davon war Rena nicht mehr überzeugt.

Das Rascheln war kaum zu vernehmen. Rena hörte es, als sie die Einkäufe in die Schränke räumte.
`Mäuse´, dachte sie. `Wahrscheinlich auf dem Boden. Naja, es gibt Schlimmeres. Todesfeen, die kreischend einen Tod ankündigen.`
Sie schmunzelte über ihren Schwarzen Humor. `Oder Monster.` Dieser Gedanke ließ Rena nicht los. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Ich hab`s!“, sagte sie laut.
Sie nahm einen Kuli und kritzelte auf den Einkaufszettel:
Di..e ... Monssa ..ben ... ei. ... .in d ... auffm ... .achboon ... ver..eck. ... bö ... se ... Monssa!
Und darunter:
Die Monster! Abends einige sind auf dem Dachboden. Verrecken. Böse Monster!
Abgehackt, unvollständig, ja sicher – doch Frau Heidemann hatte versucht, ihr nur das Nötigste anzuvertrauen. Und das war ihr gelungen.
Aber ... wer würde verrecken?
Sie begann sich zu fürchten.

Es war eine Angewohnheit aus Teenagertagen. Wenn Rena sich unbehaglich fühlte oder Angst hatte, hörte sie Musik. Fand sie ein Lied gut, spielte sie es immer wieder.
Zum sechsten Mal sang Grönemeyer: momentan ist richtig, momentan ist gut – nichts ist wirklich wichtig ...
Sie putzte die Fenster und versuchte ihr ungutes Gefühl zu verdrängen, während sie mitsang. ... ohne grund, ohne verstand
Draußen fegte Frau Drechsler das Laub zusammen. Ihr Mann mähte den Rasen. Rena winkte ihnen zu.
und der mensch heißt mensch
weil er vergisst,
weil er verdrängt
Ihr war klar, dass sie Frau Schlichter von den Anrufen ihrer Mutter erzählen sollte, weil die alte Dame sich jedes Mal furchtbar aufregte. Das konnte nicht gut für sie sein! Schweren Herzens traf Rena eine Entscheidung: Sie wollte der greisen Frau eine Woche geben. Wenn sie in diese Zeit aufhörte bei Rena anzurufen, würde sie die Angelegenheit vergessen.
du fehlst!

Wenn man Rena später fragte, was ihr am unheimlichsten gewesen war, antwortete sie stets: „Das Singen. In der Nacht. Die furchterregendsten Dinge geschehen immer in der Nacht.“
Ein letztes Mal vor dem Zubettgehen spielte sie das Lied.
... der mensch heißt mensch
weil er irrt und weil er kämpft
... weil er hofft und liebt
Da wurde es mit einem Schlag stockdunkel und totenstill. Sie drückte den Lichtschalter. Nichts geschah. Rena tastete in der Finsternis nach ihrem Feuerzeug und zündete eine Kerze an.
Kein Gerät funktionierte. Eine Sicherung war rausgeflogen, und sie hatte noch keinen Ersatz besorgt.
Verdammter Mist! Das beste wäre bei Drechslers zu läuten. Sie wollte eben losgehen, als sie es hörte. Wie gebannt stand sie einfach nur da und lauschte.
Es war das Lied.  Mensch.
Aber es wurde nicht gesungen, sondern geheult. Hohe, feine Töne lagen in der Luft, wiederholten sich immer wieder.
Schaurig schön.
Die Banchee sang.
Auf dem Dachboden.
Heißes Wachs tropfte auf Renas Hand. Sie zischte einen Fluch.
Es jaulte der mensch heißt mensch, und sie füllte das Heulen in Gedanken mit Worten.
... weil er schwärmt und glaubt,
sich anlehnt und vertraut
Das Wesen gab die Melodie perfekt wieder. Auf seine ganz eigene Art. Mit einem Mal herrschte Stille. Ohne darüber nachzudenken sang Rena laut:
„… und der mensch heißt mensch
weil er erinnert, weil er kämpft“
Sie verstummte.
An dieser Stelle nahm das Jammern die Melodie wieder auf.
`und weil er hofft und liebt`, dachte sie.
Das Kerzenlicht flackerte unruhig.

Das reichte. Endgültig. Obwohl sie wahnsinnige Angst hatte, und ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheit stecken mochte, musste sie endlich wissen, was für ein Monster auf dem Speicher hauste. Alles war besser, als diese Ungewissheit.
Sie nahm all ihren Mut zusammen. Entschlossen zog sie sich an, steckte ihr Pfefferspray in die Jeans, schnappte sich das größte Fleischermesser und stieg mit einer Taschenlampe die Treppe zum Dachboden hinauf.
Im Haus war alles ruhig. Sie spielte kurz mit dem Gedanken bei den Drechslers zu läuten, verwarf die Idee aber wieder. Sie wollte sich nicht lächerlich machen.
Rena drückte die Klinke zur Speichertür hinunter. Wie erwartet, war sie verschlossen. Ein Klagelaut drang durch das alte Holz, und ließ ihr Herz schneller schlagen. Schritte wieselten hin und her. Ein warnendes Bellen drang zu ihr.
Besser, sie kehrte um.
Dann erinnerte sie sich an den Singsang und änderte ihre Meinung.
Drechsler hatte seinen Werkzeugkoffer vergessen. Er stand in einer Ecke vor der Bodentüre. Sie durchwühlte ihn und fand ein Stemmeisen. Nach dem vierten Versuch hatte sie das nagelneue Schloss aufgebrochen.
Und dabei jede Menge Radau verursacht.
Hinter der Tür waren Töne zu hören, die Rena an ein gehetztes Tier erinnerten. Sie versuchte ihre Furch beiseite zu schieben, hielt das Messer kampfbereit und trat die Speichertür auf.
Sie bekam mit, wie im Stockwerk unter ihr die Wohnungstür des Hausmeisters aufgerissen wurde, hörte Veronikas erschrockenen Ausruf und Franz eilige Schritte.
Dann nahm sie nichts mehr wahr, denn im Schein ihrer Taschenlampe starrte das Wesen direkt in Renas Gesicht. Die schrägstehenden Augen glitzerten.
Das konnte nicht sein!
Das durfte nicht sein!

Im gleichen Augenblick erschien ihr der Satz der alten Frau wie Leuchtbuchstaben vor den Augen:
„Di..e ... Monssa ..ben ... ei. ... .ind ... auffm ... .achboon ... ver..eck. ... bö ... se ... Monssa!“
Er wurde endlich vollständig, als sie wortlos herumfuhr und in Franz und Veronikas entgeisterte Gesichter starrte: DIESE MONSTER! Und absolut verständlich, als sie das zitternde Geschöpf betrachtete, das im Strahl ihrer Taschenlampe gefangen schien: HABEN EIN KIND AUF DEM DACHBODEN VERSTECKT. BÖSE MONSTER!

Down-Syndrom. Das typische freundliche Vollmondgesicht sagte ihr alles. Es war ein Junge. Nackt. Das Alter konnte sie nicht schätzen, denn das Kind hockte zitternd auf dem bloßen Fußboden, war erbärmlich mager und verschmutzt. Sein Schädel war völlig kahl. Es gab ängstliche, fiepende Töne von sich. `Wie ein Meerschweinchen´, dachte Rena.
Blaue Striemen zogen sich über den kleinen Rücken, seine Lippen waren aufgeplatzt. Der Junge bewegte unsicher den Kopf, hob abwehrend die Hände, als täte ihm das Licht weh. Das Fiepen wurde erst lauter, dann verstummte es. Schließlich hockte er einfach nur da.
Alle Fenster waren mit Brettern vernagelt. In der Ecke lagen eine muffige Matratze, eine alte Wolldecke. Daneben stand ein Napf mit Wasser. `
Exkremente waren über den Boden verteilt. Es stank. Nach Scheiße,  Schweiß und nach Angst.
Rena würgte. Sie konnte verstehen, dass Frau Heidemann bei diesem Anblick der Schlag getroffen hatte. Und die Drechslers ließen die alte Frau liegen, in der Hoffnung, dass sie sterben würde.
Vorsichtig kroch das Kind in den hintersten Winkel des Speichers, duckte sich unter eine Dachschräge, wurde eins mit den Schatten. Keinen Augenblick ließ es das hellerleuchtete Rechteck der Tür und die Menschen aus den Augen. Es legte die Arme schützend um den Kopf, wiegte sich hin und her, knurrte wie eine Tier, das man in die Enge getrieben hatte.
Rena brachte es nicht über sich ihm seine illusorische Sicherheit zu nehmen. Sie leuchtete die Schräge nicht aus.
Als der Junge anfing laut zu winseln, sang Rena:
„der mensch heißt mensch“
Es wurde still in dem Winkel.
„... es ist ok
alles auf dem weg ...“
Er kam nicht hervor, schmiegte sich tiefer in sein Versteck, aber er heulte die Melodie.

Franz Drechsler schrie wie ein Besessener. Rena hatte ihm kurzerhand Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, als er versuchte sie vom Speicher zu zerren. Veronika hatte eine Faust vor den Mund gepresst. Sie lehnte wie festgewachsen an der Wand, zu keiner Regung fähig.
Während Rena mit Drechsler rangelte, hörte sie eilige Schritte im Hausflur. Das Flurlicht flammte auf. Der Versicherungsvertreter aus dem zweiten Stock stand eine Sekunde verblüfft da, dann versuchte er Drechsler von Rena fortzureißen. Das Messer fiel klappernd auf die Fliesen.
Frau Schön tauchte im Nachthemd auf, rannte in ihre Wohnung und kehrte mit ihrem Mann zurück, der in ein Handy brüllte. Meininghaus´ Dackel kläffte wie wahnsinnig. Das Chaos war perfekt!
Kurz darauf wimmelte es im Flur von Beamten. Ein Arzt in weißem Kittel rannte an Rena vorbei. Sie hörte das Kreischen des Kindes.
„Verdammt, er hat mich gebissen!“, rief ein Mann. „Ruhig, mein Kleiner, ganz ruhig!“
Menschen liefen hin und her, riefen sich gegenseitig etwas zu. Schließlich trugen sie den Jungen an Rena vorbei. Er hatte die Augen geschlossen und war festgegurtet. Er sah winzig aus auf der Trage.
Verloren.
Schutzbedürftig.
Das Bild würde Rena nie vergessen, auch wenn sie wusste, dass er bald besser aufgehoben sein würde.

Als sie Stunden später in ihrem Bett lag, kreisten ihre Gedanken immer wieder um die gleichen Fragen.
Wie konnten Eltern ihrem Kind so etwas Undenkbares antun?
Warum hatte sie erst so spät begriffen, was hier geschah?
Weshalb bemerkte jahrelang niemand etwas?
Oder hatte man einfach weggesehen?
Warum taten Menschen so was?
Rena stand auf, zog die CD MENSCH aus dem Player und zerbrach sie.

Sie erledigte den Anruf am darauffolgenden Morgen.
„Schlichter.“
„Hallo, hier ist Rena Huber. Kann ich bitte Ihre Mutter sprechen?“
„Meine Mutter?“, man hörte ihr die Verwirrung an. „Sie wissen doch, dass sie sich nicht aufregen darf, de...“
„Bitte“, unterbrach Rena sie. „Es ist sehr wichtig. Sie wird sich freuen, das verspreche Ihnen.“
“Na gut. Einen Moment, bitte.“
Es dauerte lange, bis die alte Frau am Apparat war.
„.eidemann ...“, lallte es durch den Hörer.
„Ich habe ihn gefunden. Er war auf dem Dachboden, wie Sie gesagt haben. Es geht ihm jetzt gut.“
Durch das unsichere Lachen der Greisin konnte man die Tränen ahnen.
„Dreehhsslersss... ?“
„Sie haben sie am Kragen!“
Ein Schnaufen, dann:
„Monssa!“