Kanake
© Sabine Ludwigs

Ariadne Potthof, genannt Ari, das bin ich. Den Namen hat Oma ausgesucht. Sie liebte die griechische Mythologie. Das ist der Grund, warum meine Mutter Helena hieß und ich den Namen der Tochter des Königs von Minos trage.
Als Oma starb, hinterließ sie mir zwei kohleschwarze Katzen. Poseidon, einen schmusigen Wonneproppen, der am Ende meines Bettes schläft und mir in kalten Nächten die Füße wärmt, und das krasse Gegenteil: die sich herumtreibende Kanake.
„Du solltest sie lieber nicht Kanake nennen“, riet ich Oma damals. „Echt nicht.“
„Weshalb, Ari?“
„Weil wir in einem multikulti Viertel leben, in dem die häufigsten Vornamen Ali und Aysche sind.“
„Uhuuund?“, fragte sie gedehnt.
„Naja, meinste nicht, dass es Ärger geben ...?“
„Papperlapapp!“ Oma unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Mir gefallen die Namen und damit basta.“
Schwierigkeiten schien sie nicht zu befürchten und erwähnte bis zu ihrem Tode mit keinem Wort, dass es jemals welche gab. Trotzdem hatte ich Bammel, wie meine Nachbarn reagieren würden, als ich Poseidon und Kanake zu mir in die Glück-Auf-Siedlung holte.

Mit Karl-Heinz Obermüller, passioniertem Taubenvater und Nachbarn zur Linken, gab es prompt Zoff. Er beschimpfte die Katzen als „verdammte Dachhasen“ und verjagte sie, sobald er sie sah. Poseidon mied Taubenkalles Garten, als würden Höllenhunde das Grundstück bewachen - wohingegen Kanake sich im Schutz der Dunkelheit dort Nacht für Nacht verlustierte.
Und Kalle blieb nicht der Einzige!
Nur ein paar Schritte die Straße runter lag meine Lieblingsdönerbude, deren knallgelbe Schilder sich auffallend vom geschwärzten Rot der umliegenden Klinkerhäuser abhoben. Der Imbiss gehörte Metin Oguz, der mich stets mit einem munteren „Merhaba!“ begrüßte. „Merhaba, Nummaa sweiunfuffsich.“
Nummer zweiundfünfzig war das Gericht auf seiner Karte, das ich immer bestellte – Döner komplett.
Doch damit war es vorbei, als Metin zufällig hörte, wie ich vor meiner Tür stand und „Kanake!“ brüllte. Ich bekam augenblicklich Lokalverbot. Deswegen ging ich nun öfter zu den beiden Kostas.

Die Kostas betrieben das „Pyros“, ein kleines Restaurant im Nebenhaus. Wenn man hier in früheren Jahren abends im Biergarten gesessen hatte und auf den Zechen überschüssiges Grubengas abgefackelt wurde, waren die Feuer auf den hohen Schloten weithin zu sehen. Ihr Schein fiel bis auf die Terrasse des „Pyros“ und tauchte alles in flackerndes, rötliches Licht. Deshalb hieß das Lokal auch „Pyros“ – „Feuer“.
Der dicke Kostas hatte meist schlechte Laune. Er fluchte laut, teils auf Griechisch, teils auf Deutsch, wenn er die weißen Plastiktische und Stühle vor dem Lokal von Taubenkot befreien musste.
Dagegen sprach der alte Kostas kein Wort zu viel, erwiderte kaum einen Gruß, wenn man hereinkam. So auch an diesem Abend.
„Ja sou, Kostas!“
„Ja sou.“
„Einmal Gyros Pita mit Tsatsiki zum Mitnehmen, bitte.“
„Mit ohne Swiebeln?“
Ich nickte.
Der alte Kostas machte sich an die Arbeit und der dicke murmelte so etwas vor sich hin wie: „Nennt man seine Katze nix Kanake! Is Schimpfwort, is rechts!“ Dazwischen ein Schnauben. „Is Beleidigung!“
Er nörgelte gerade so laut, dass ich es hören oder überhören konnte. Da es mir unangenehm war, mich vor den anderen Gästen mit Kostas zu beharken, tat ich so, als hätte ich nichts mitbekommen.
Der alte Kostas schwieg eisig, während er kassierte.
Wie ein geprügelter Hund schlich ich nach Hause, aß ohne großen Appetit meine Pita und wartete darauf, dass es dunkel wurde, damit ich tun konnte, was ich tun musste.

Endlich brach die Dunkelheit herein und ich stahl mich ins Freie. Ohne Licht tappte ich zum Schuppen, griff mir den Spaten und schaffte ihn ganz nach hinten in den Garten. Dahin, wo die Rhododendren besonders dicht standen und die Laube mich vor neugierigen Blicken schützte. Dorthin, wo die Leiche lag.
Beim Graben überlegte ich, die wievielte Grube es war, die ich gerade aushob.
Poseidon hockte gleichgültig, Kanake missmutig neben dem Loch, als ich den Taubenkadaver mit der Fußspitze ins Grab schob und Erde darauf häufte.
Kalle Obermüller kam mir in den Sinn.
„Wenn ich deine Viecher in meinem Taubenhaus erwische, erschlag ich sie!“, drohte er oft über den Gartenzaun. „Oder ich knall se ab!“
„Die sind an deinen fliegenden Ratten nicht interessiert“, behauptete ich dreist, und wenn Taubenkalle in seinem Gezeter innehielt, weil er mal atmen musste, setzte ich noch eins drauf: „Wenn se im Kochpott landen würden, wären se wenigstens noch zu was nütze. So scheißen sie doch nur alles zu.“
Mit fiel ein, dass Oma oft Taubensuppe gekocht hatte. Das feine, weiche Fleisch in der goldenen Brühe schmeckte köstlich. Ich hielt inne. Ob Kanake ihr etwa auch ... ?
Ach, Quatsch!
Sorgfältig trat ich die Erde auf dem Taubengrab platt. Danach drehte ich mich um und stellte fest, dass Kanake verschwunden war.
Mit gedämpfter Stimme rief ich: „Kanake!“ Doch sie kam nicht. Ich versuchte es im Vorgarten: „Kanake! Kanake wo bist du?“ Und da erst bemerkte ich den dicken Kostas.
Er schloss gerade das „Pyros“ ab und zischte: „Nennt man seine Katze nix Kanake!“
Ich habe sie nicht Kanake genannt. Außerdem ist es der einzige Name, auf den sie hört, sonst kommt sie nicht.“ Zum Beweis rief ich den neuen Namen, den ich ihr ausgesucht hatte: „Medusa!“
Nichts.
„Medusa!“
Gar nichts.
Kostas und ich maßen uns mit Blicken, schließlich schaute ich weg und winselte verhalten: „Kanake.“
Kurz darauf raschelte es in den Sträuchern und Kanakes goldene Augen funkelten im Dickicht.
Vielsagend schaute ich Kostas an.
„Komm ins Haus“, lockte ich Kanake mit meiner sanftesten Stimme in der Hoffnung, es sei noch nicht zu spät. Als sie hervorbrach, zuckte ich zusammen.
Es war vorbei, aus und vorbei. Endgültig – denn im Maul trug Kanake eine von Kalles preisgekrönten Tauben. Mausetot natürlich. Ein zerfleddertes Prachtexemplar, dessen Ring um die Vogelkralle nicht zu übersehen war.
Mir wurde ganz flau und ich schloss die Augen. Kostas würde Kalle alles stecken, sicher würde ich eine Anzeige bekommen wegen Taubenmordes, Wilderns, Sachbeschädigung oder sonst was.
Ob ich Kanake einsperren musste? Oder – noch schlimmer! – einschläfern lassen?
Doch da hörte ich durch das Rauschen in meinen Ohren Kostas Stimme: „Is gut, Ari. Kein Angst, nix heulen.“ Seine Augen leuchteten, als er den stattlichen Vogel fixierte. Ich schöpfte Hoffnung und beschloss, ihm die ganze Geschichte mit Kanake zu erzählen.
Erst grinste er breit. Dann lachte er schallend. „Alles klar, Ari ... Ich kümma mich um ... ähhh ... Pulerika“, er zwinkerte mir zu, „um Geflügel!“
Und das tat er.

Seither schleicht Kanake zwar noch immer nachts umher und ich habe nach wie vor Ärger mit Taubenkalle, aber ich muss keine Gräber mehr ausheben und habe mich auch mit Metin ausgesöhnt.
Im „Pyros“ ist Kanake seit jener Nacht gern gesehen. Der dicke Kostas mag sie besonders. Er erklärt jedem, dass Kanake „Kanake“ heißt, weil ihr früheres Frauchen eine große Liebhaberin der griechischen Mythologie war. Deshalb trägt die Katze den Namen einer Geliebten des Meeresgottes Poseidon, mit dem sie fünf Söhne hatte. Über die Unwissenheit und voreiligen Urteile mancher Mitmenschen kann Kostas nur den Kopf schütteln.
Übrigens habe ich gestern die neue Pita Pulerika im „Pyros“ probiert. Mit Tsatsiki und mit ohne Swiebeln. Einfach lecka!