Der stille Herr Jakob
© Sabine Ludwigs

Am ersten Ferientag wachte Lilly sehr spät auf. Sie gähnte, kletterte aus dem Bett und lief zum Fenster. Mit einem Knall ließ sie das Rollo hochsausen.
Grauweiße Wolken hingen über der Stadt und mit einem Male tanzte eine dicke Schneeflocke vom Himmel, danach eine zweite und schon war es ein fedriges Gewimmel.
„Hurra!“, schrie Lilly. „Es schneit!“
Unten auf der Straße ging der stille Herr Jakob vorbei, und den mochte Lilly gern.
Jeder im Ort kannte den stillen Herrn Jakob, der in einer Gartenlaube am Ende der Straße wohnte. Er war ein schmächtiger Mann mit braunen Locken, der sehr leise und nur selten sprach. Er trug stets eine gelbe Kappe und besaß eine kleine, silberne Flöte.
Mit dieser Flöte verdiente der stille Herr Jakob sein Geld, denn er war Straßenmusikant – mehr noch, er war der beste Straßenmusikant der Welt, fand Lilly. Wenn er flötete, legte er die gelbe Kappe vor seine Füße, damit die Leute ihm ein paar Münzen hineinwarfen.
Lilly ließ ihn nicht aus den Augen. Obwohl er ganz allein durch den Schnee spazierte, schaute er immer wieder zur Seite, als würde jemand neben ihm her gehen. Manchmal nickte er oder bewegte die Lippen, ganz so, als würde er sich unterhalten.
Lilly wusste, das passierte öfter. Deshalb lachten die Leute über den stillen Herrn Jakob, tippten sich gegen die Stirn und sagten: „Der spinnt! Er behauptet, dass er mit Engeln spricht!“
Plötzlich blieb er stehen und guckte zu Lilly hinauf. Sie winkte und er lächelte. Dann ging er weiter.
Von weitem leuchtete seine gelbe Kappe wie ein Stern.

Am Nachmittag bummelte Lilly mit ihrer Mutter über den Weihnachtsmarkt.
Ein süßer Duft von Bratäpfeln, Zimt und Vanille zog durch die Gassen, dass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Weihnachtslieder, Stimmen und Gelächter waren zu hören, ein Kinderkarussell mit Holzpferdchen drehte sich, doch am schönsten fand Lilly den riesigen Tannenbaum mit den brennenden Lichtern inmitten der geschmückten Holzbuden. Hier konnte man Tee kaufen, Süßigkeiten, Spielzeug, Bratwürste oder Weihnachtsschmuck.

Lillys Mutter blieb an einem Kerzenstand stehen, und da entdeckte Lilly ihn: Zwischen den Buden, in einem ruhigen Winkel, spielte der stille Herr Jakob auf seiner kleinen Flöte.

Die Passanten gingen wie Blinde an ihm vorbei. Keine Menschenseele hörte zu, niemand – außer Lilly.
Die Melodie, die aus der Silberflöte stieg, wisperte und raunte geheimnisvoll. Es klang beinahe, als wäre es Geflüster, wie kaum hörbare Worte, die eine Geschichte erzählten, so leise, dass Lilly näher ging, um besser zu verstehen.
Aus der Nähe sah der stille Herr Jakob noch kleiner und magerer aus. Schneeflocken schmolzen in seinen Haaren. Sein Mantel war schäbig und die gelbe Kappe vor seinen Füßen leer.
Lilly kramte in ihrer Jackentasche und warf die letzte Münze ihres Taschengeldes hinein.
Sie lauschte dem Getuschel der Musik, als sich etwas veränderte. Lilly kniff die Augen zu und riss sie wieder auf: „Aber ... das ist unmöglich“, dachte sie. „Ein Lied, das man sehen kann!“
Doch genau so war es - Lilly hörte und sah die Musik: Die Töne waren aus himmelblauem Licht, goldene Pünktchen schwirrten wie Feuerfunken umher. Die Schneeflocken um den stillen Herrn Jakob verschmolzen mit den Klängen, wurden bunt und setzten sich wie Mosaiksteichen zu Bildern zusammen.
Da war ein funkelnder Nachthimmel und ein wandernder Stern, Lilly sah Schafe, Hirten und die drei Weisen auf ihren Kamelen, sie hörte einen Chor und erblickte einen Engel, der über einem Stall schwebte, da war ein Licht ... und ein Kind.
Als das Lied zuende ging, fühlte Lilly sich, als wäre sie aus einem wunderbaren Traum erwacht. Ungläubig starrte sie erst den stillen Herrn Jakob und danach die Menschen an. Die strömten noch immer vorüber und hatten nichts von alledem gesehen.
Der stille Herr Jakob stand einfach nur da, die Flöte in der Hand.
„O“, hauchte Lilly. „Das ist ... das war wunderbar! Woher können Sie das, Herr Jakob?“
Er deutete mit der Flöte in Richtung Himmel. „Meine Freunde haben es mir beigebracht.“
„Ihre Freunde?“
Er nickte. „Meine Freunde ... die Engel.“ Lilly bekam eine Gänsehaut.
In diesem Augenblick hörte sie ihre Mutter rufen und stotterte: „Ich ... ich muss jetzt leider gehen. Also ... Tschüss, Herr Jakob.“

Lilly hockte auf der Fensterbank in ihrem Zimmer und überlegte, ob sie ihrer Mutter die ganze Geschichte erzählen sollte - denn das war so eine Sache mit Erwachsenen.
Draußen sah es aus wie in einer Schneekugel, die jemand geschüttelt hatte. Eine einsame Gestalt stapfte durch das Schneegestöber. Lilly ging mit ihrem Gesicht ganz nahe an die Fensterscheibe und hielt den Atem an, damit das Glas nicht beschlug. Angestrengt schaute sie in die taumelnden Flocken und erkannte den stillen Herrn Jakob.
Das Gelb seiner Kappe leuchtete wie ein Stern, und für einen klitzekleinen Augenblick glaubte Lilly neben ihm ein Paar Flügel zu sehen. Vielleicht waren es aber auch nur die Schneeflocken.