FERNWEH
©Sabine Ludwigs
"Wir spielen mit dunklen Kräften, die wir mit unseren Namen nicht erfassen können, wie Kinder mit dem Feuer spielen und es scheint einen Augenblick, als hätte alle Energie bisher ungebraucht in den Dingen gelegen, bis wir kamen, um sie auf unser flüchtiges Leben und seine Bedürfnisse anzuwenden.
Aber immer und immer wieder in Jahrtausenden schütteln die Kräfteihre Namen ab und erheben sich, wie ein unterdrückter Stand, gegen ihre kleinen Herren, ja nicht einmal ´gegen´ sie - sie stehen einfach auf, und die Kulturen fallen von den Schultern der Erde, die wieder groß ist und weit und allein mit ihren Meeren, Bäumen und Sternen..."
R.M. Rilke
Manchmal erinnerte ich mich an etwas.
An das Licht zum Beispiel. Es war strahlend hell und golden aber so mild, daß es nicht blendete. Ein schimmernder Blauton zog sich hindurch. Man glaubte beinahe, daß man es berühren konnte, so stofflich wirkte es. Das Licht durchflutete alles, es war überall und durchfloß den ganzen Ort.
Oder an den Frieden. Um mich herum war nichts als Frieden und Liebe gewesen. Ich war niemals allein, ich hatte niemals angst. Ich existierte in vollkommener Harmonie in der Stille. Vollkommenheit.
Es gab Augenblicke, da meinte ich, daß der Schleier des Vergessens sich heben und neue Erinnerungsstücke freigeben würde. Aber jedesmals - kurz bevor das Erkennen mich gänzlich durchzucken konnte - schob sich wie ein schwerer, schwarzer Vorhang das Vergessen davor; und es geschah nichts.
Ich war dann immer sehr traurig.
Ich erzählte nie jemanden von meinen Erinnerungen. Was hätte ich auch sagen sollen? Daß ich mich nicht nur an meine Geburt erinnerte, sondern auch an die langen Monate davor, im Leib meiner
Mutter?
Und manchmal sogar an die entfernte Zeit davor, an den strahlenden, ruhigen Ort?
Wie und warum sich meine Gestalt änderte, daß wußte ich nicht mehr. Auch nicht, wann der richtige Zeitpunkt nahte. Nur, daß die Veränderung kam und ich gehen mußte. Es war Nacht, und ich kannte die blonde junge Frau nicht, die dort vor mir im Bett lag, aber ich wußte, daß diese Frau werdendes Leben in sich trug.Ich blickte auf die Schlafende. Sacht schwebte ich über dem Körper der Frau. Im Schlaf wirkte sie so verletzlich. Meine schemenhafte, Gestalt schwebte nun parallel über dem Körper der Frau. Es sah aus, wie ein phantastisches, nebelhaftes Abbild, wie ein Spiegelbild aus Nebel.
Ich begann heller zu werden. Ein warmes, gedämpftes Licht, daß sich langsam steigerte, bis es den ganzen Körper erfüllte. Zögernd veränderte sich meine Gestalt. Ich zog mich zusammen, Farben begannen zu schillern, meine Form wurde kleiner, runder, formte sich zu einer perfekten Kugel.
Die Farben erstrahlten, als bräche ein Prisma das Licht. Sie bewegten sich wabernd in der Kugel, die ruhig und erhaben über dem Bett schwebte. Ich glich nun am ehesten einer wunderschönen Seifenblase, die an einem Sommertag in der Sonne glitzerte.
Ich war nur um vieles schöner, überirdischer, weicher.
Nun schwebte ich genau über dem Bauchnabel des Mädchens. Regungslos verharrte ich dort. Ich wartete. Ein Augenblick vollkommener Stille trat ein - die Zeit schien stillzustehen dann spürte ich, wie etwas mich ganz sanft zog. Der Sog war zuerst leicht und steigerte sich, bis er unwiderstehlich wurde.
Ein Rauschen ertönte und wurde lauter, je stärker der Sog wurde. Ganz sacht wurde ich durch den Nabel in das Innere des Körpers gezogen. Ich spürte keinen Widerstand, als ich in rasender Geschwindigkeit durch den Körper fuhr.
Dunkelheit. Stille. Dann konnte ich es sehen: Der Embryo war winzig. Er war in meinem Licht deutlich zu sehen. Bewegungslos trieb er in dem warmen, nährreichen Fruchtwasser. Er wirke noch unfertig, kaum menschlich - und doch auf seine geheimnisvolle Weise erhaben und schön.
Ich verharrte, trieb langsam zu dem Ungeborenen und glitt zärtlich und widerstandslos durch die weiche Fontanelle des Köpfchens. Als nächstes spürte ich ein sanftes Pochen. Wärme durchpulste mich, ein fast unhörbares Rauschen, dann wieder dieses Pochen.
Puchpoch - puchpoch - puchpoch
Ich hatte eben den Herzschlag des Kindes gespürt. Seinen ersten
Herzschlag. Meinen ersten Herzschlag.
Es war der Erste von so vielen die folgen sollten.
Ich - die Seele - hatte ihr Ziel erreicht!
Rhythmisch pochte das Herzchen weiter.