Cover erdbeermädchenDer Sommer mit dem Erdbeermädchen
© Sabine Ludwigs

Da hockte ein Mädchen vor der Badewanne. Ein elfenhaft zartes Mädchen mit dichten, honigblonden Haaren, das kniend ein Handtuch nach dem anderen aus dem Schrank unter dem Waschbecken zerrte und in die Wanne häufte.
Das konnte nur Lina sein.
Ihre Augen waren eher grau als grün, wie von Morgentau überkrustetes Gras. Groß schwammen sie in einem blassen Gesicht, so groß und rund, dass sie denen einer Mangafigur glichen. Sie starrten ins Nirgendwo. Leblos, fand Nick, wie bei einer Filmleiche.
Ihre Hände arbeiteten mechanisch – den Handtüchern folgten Waschlappen. Badetücher. Die Wäsche türmte sich bald bis zum Rand. Erst als der Schrank leer war, verharrte das Mädchen. Bewegungslos wie eine Maschine, die ihr Programm abgespult, ihre Arbeit beendet und sich abgeschaltet hatte.
Das unbeschwerte Bienengesumm, das weiterhin in der Stille schwirrte, erlöste Nick aus seiner Versteinerung. Er musste irgendetwas tun, irgendetwas sagen, einen Satz nur, ein Wort.
„Hi“, krächzte er.
Unendlich langsam wandte Lina ihren Kopf in seine Richtung und ihm fiel auf, wie hübsch sie war.
Lina kam auf die Beine. Sie drückte sich mit dem Rücken flach gegen die gekachelte Wand und
schaute ihn aus ihrem Mangagesicht stumm an.
Nick erinnerte sich, dass Herr Guth einmal mit der Hundeleine auf Nero eingeschlagen hatte, der noch ein Welpe gewesen war und nicht aufs Wort gehorchte. Der junge Cockerspaniel duckte sich völlig verängstigt und kauerte sich jaulend zusammen – bis Nicks Vater aus dem Haus stürmte und aufgebracht dazwischen ging. Er drohte Guth mit einer Anzeige und redete anschließend beruhigend auf das zitternde Tierchen ein.
Der geschundene Nero hatte den gleichen Blick in den feuchten Augen gehabt wie jetzt Lina.
Nick schluckte. „Hi“, sagte er ein zweites Mal. „Ich bin Nick. Der Neffe von Marion und Thomas.
Ich wohne hier. Während der Ferien. Da.“ Er deutete in Richtung Mondzimmer. „Das ist mein Zimmer.“
Nichts geschah.
„Du musst Lina sein.“ Er machte einen vorsichtigen Schritt auf das Waschbecken zu.
Lina wich noch weiter zurück, ganz so, als wollte sie in das Mauerwerk kriechen und mit den Fliesen verschmelzen.
Nick sah, dass sie noch blasser wurde. Unwillkürlich kam ihm die Redewendung „ihr wich alles Blut aus dem Gesicht“ in den Sinn. „Ich wasche mir nur die Hände“, erklärte er in beruhigendem Ton. „Alles klar? Ich mach ganz schnell.“ Er drehte den Hahn auf. Wasser schoss silbrig in das Becken. Es spritzte ein wenig und verschwand gluckernd im Ausguss.
Linas Atem ging schneller. Sie starrte auf den Strahl, als wäre er aus einer gefährlichen Säure, mit der Nick sie verätzen wollte. Dann streckte sie eine bebende Hand aus und drehte den Hahn zu.
Sie sagte nichts, aber er sah Tränen aufsteigen, die sie mit den Handrücken von ihren Wangen wischte, ehe sie heruntertropfen konnten. Wieder und wieder, immer fahriger, immer krampfhafter.
Ihr Oberkörper begann zu zucken, und obwohl sie sichtbar darum kämpfte, jeden Laut zu unterdrücken, sickerte ein Stöhnen zwischen ihren Lippen hindurch und wurde zu einem Wimmern. Dann sackte Lina in sich zusammen.
Das Jammern wurde schlimmer, durchdringender, bis es ein Heulen war, in dem Nick die bodenlose, alle Empfindungen und Gedanken durchsetzende Verzweiflung spüren konnte, die ihr die Worte genommen hatte. Die Töne schüchterten ihn ein und verunsicherten ihn zutiefst. Sie waren wie Messerschnitte auf seiner Haut.
Ganz egal was Mama sagt, dachte er. Das Mädchen ist komplett durchgeknallt.