Das starke Geschlecht
© Sabine Ludwigs
Das Klirren kam aus der Küche, gefolgt von einem schrillen Schrei.
„Aua, verdammte Scheiße!“, brüllte Bernd wie in höchster Not.
Vera ging nachschauen.
Auf dem gefliesten Boden lagen Glasscherben.
Daneben stand ihr Mann, seine blutige Hand weitmöglichst von sich gestreckt, die Augen zugekniffen, damit er das Blut nicht sehen musste.
„Vera!“, wimmerte er. „Vera, komm schnell! Ich habe eine furchtbare Verletzung!“
„Ich bin schon hier. Zeig mal her.“
Vorsichtig öffneten sich seine Augen einen Spaltbreit und er hielt ihr zitternd den verletzten Körperteil entgegen. Der Schnitt am Mittelfinger war nicht sehr tief, etwa so lang wie ihr kleiner Finger, blutete aber heftig.
Nichts Weltbewegendes
„Halb so schlimm, Bernd.“
„Ich muss mich setzen. Mein Gott Vera, mir wird ganz schwummrig ...“ Er schleppte sich zur Essgruppe und hinterließ dabei hässliche Blutstropfen auf dem Fußboden.
Vera nahm ein sauberes Trockentuch, und wickelte es um seine Hand. „Autsch, sei bloß vorsichtig!“, zischte er. „Nur eine Winzigkeit tiefer, und ich hätte mir den Finger glatt abgetrennt!“
Sie konnte ein spöttisches Schnaufen grad noch unterdrücken.
„Was sollen wir denn jetzt tun?“ Seine Stimme war schmerzverzerrt.
„Mit Jod beträufeln und ein Pflaster draufkleben. Was sonst?“ Sie ging ins Bad und holte das Verbandszeug.
Die Wunde blutete nicht mehr so stark. Vera desinfizierte sie und wollte das Pflaster anlegen.
„Das ist viel zu klein! Sieh dir doch nur mal an, wie riesig die Wunde ist!“
„Bernd, erstens ist das Heftpflaster absolut ausreichend, und zweitens haben wir keine größeren im Haus. In Ordnung?“
“Nein! Hast du nicht gesehen, wie viel Blut ich verloren habe?“ Er deutete auf die Flecken auf dem Boden. „Wer weiß, wie hoch der Blutverlust noch sein wird, wenn die Wunde nicht ordentlich verbunden ist.“
Vera seufzte ungeduldig.
Trotzdem wickelte sie ihm ein Küchentuch um – ein frisches, das erste könnte mit Bakterien und Keimen verseucht sein, meinte Bernd - und fuhr zur Apotheke. Sie hatte dort eh noch eine Besorgung zu machen.
Wieder bei ihrem Patienten, nahm sie behutsam das Tuch weg.
„Bist du sicher, dass es nicht genäht werden muss, Vera?“
Bernd wandte den Blick ab.
„Ja. Es ist nicht so schlimm.“
„Dafür tut es aber verdammt weh ...“
„Halt still“, unterbrach sie ihn.
Tapfer hielt er Vera die Hand hin und ließ sich mit heroischer Miene das Heftpflaster aufkleben.
„Würdest du mir zum Abendessen eine Fleischbrühe kochen? Zur Stärkung, um den Blutverlust zu kompensieren, weißt du.“
„Klar, mach ich.“ Vera war froh, dass noch Hühnersuppe in der Tiefkühletruhe lag, die sie schnell aufwärmen konnte.
Währenddessen saß der Verwundete im Wohnzimmer, die Füße erschöpft auf den Tisch gelegt.
Als Vera ihm die Suppe brachte, erwischte sie ihn, wie er das Pflaster anhob und darunter linste. Dann quetschte er solange an der Wunde herum, bis er es geschafft hatte und sie wieder anfing zu bluten.
„Bernd!“
„Es hätte doch genäht werden müssen!“, verteidigte er sich. „ Außerdem hast du das Heftpflaster nicht fest genug geklebt. Sieh nur, es hält gar nicht.“
Wortlos holte sie ein neues.
Der Patient konnte ein Wimmern kaum unterdrücken. „Vorsicht, die Klebestreifen! Reiß es bloß nicht mit einem Ruck ab!“
Vera unterdrückte den Impuls genau das zu tun, löste das Pflaster behutsam ab und klebte ein neues auf. Diesmal drückte sie es richtig fest.
Bernd zuckte zusammen.
„So, das müsste halten.“ Sie lächelte ihn sardonisch an. Er erbleichte, zog seine verwundete Hand schützend an die Brust und schwieg.
Während Bernd den „Tatort“ im Fernsehen verfolgte, wischte Vera schnell die Blutflecken von den Küchenfliesen, räumte das Geschirr in die Spülmaschine, wusch einem Korb Buntwäsche und brachte den Abfall selbst raus.
Das war einfacher, als mit Bernd darüber zu diskutieren, ob er in seiner Verfassung in der Lage war einen Müllbeuten zur Tonne zur tragen.
In der Nacht wurde Vera um 0.03 Uhr zum ersten Mal aus dem Schlaf gerissen. Bernd machte Licht und tapste ins Bad.
Da schöpfte sie noch keinen Verdacht und dachte, dass er mal pinkeln müsste. Auch um 1.17 Uhr und 2.25 Uhr wurde sie nicht misstrauisch.
Aber als um kurz nach 3.00 Uhr wieder das Licht aufflammte und Bernd sie zum vierten Mal weckte ohne es überhaupt zu bemerken, ging Vera ihm nach.
Geblendet schloss sie die Augen. Im Badezimmer brannten alle Lampen.
Bernd hatte den Ärmel seines Schlafanzuges hochgekrempelt, drehte und wendete den Arm und beäugte ihn eingehend mit der Lupe, die er für seine Briefmarkensammlung brauchte und die ebenfalls über ein Licht verfügte.
„Was machst du da?“
Ertappt fuhr er herum.
„Ich suche nach dem roten Streifen.“
„Dem roten Streifen?“ Verständnislos sah sie ihn an.
„Ja. Du weißt schon. Der rote Streifen, der von einer infizierten Wunde zum Herzen führt. Daran erkennt man eine Blutvergiftung. Wenn der Streifen das Herz erreicht, ist man tot.“
Er suchte weiter nach dem verdächtigen Symptom.
„Wieso Blutvergiftung?“
Bernd blieb geduldig: „Ich hätte auf jeden Fall eine Tetanus-Spritze bekommen sollen, Vera. Das ist ein böser Schnitt, der eigentlich genäht werden muss. Ich behalte ihn besser im Auge, nicht dass er sich doch noch entzündet.“
Er wandte seinen anklagenden Blick vor ihr ab und beäugte wieder seine Venen.
Wortlos drehte Vera sich um, ging ins Bett, verstopfte sich die Ohren mit Oropax und schlief endlich ungestört.
Um allen Klagen vorzubeugen, bandagierte sie Bernds Finger mit einem Mullverband, bevor er ins Büro fuhr.
Im Hausflur begegnete er Max Schröder, einem Nachbarn.
Durch die geschlossene Wohnungstür konnte Vera hören, wie Max sich nach dem riesigen Verband erkundigte: „Na, das sieht ja gar nicht gut aus!? Was ist passiert?“
Und Bernds großspurige Antwort: „Das? Ach, nur eine Bagatelle. Kleiner Schnitt, nicht der Rede wert. Schönen Tag noch!“
Weg war er.
Vor der Haustür traf er auf die junge Postbotin, die teilnahmsvoll nach seinem Finger fragte.
Vera hätte viel darum gegeben, wenn sie als Gegenleistung von den Lippen lesen könnte. Aber Bernds gequälte Miene sprach für sich. Und die Geste, mit der er der Zustellerin seinen Verband zur Begutachtung entgegenstreckte, um sich anschließend in ihren mitleidigen Blicken zu suhlen.
„Männer,“ murmelte Vera.
Es passierte beim Zwiebeln hacken.
`Autsch`, dachte Vera, als sie mit dem Hackmesser ihren Daumen derbe erwischte. Es war ein tiefer Schnitt, sie konnte die Fingerkuppe ein ganzes Stück aufklappen. Schnell schob sie den Finger in den Mund, damit sie nicht alles mit Blut volltropfte. Sie ging ins Bad, hielt die Hand unter kaltes Wasser, damit es aufhörte zu bluten, pulte mit der anderen ein Heftpflaster aus der Verpackung und klebte es auf.
Danach machte sie sich wieder über die Zwiebeln her, und richtete das Abendessen.
Bernd hatte zwar nicht gejammert als er nach Hause kam, aber zum Squashen konnte er am Abend noch nicht gehen.
„Wie soll ich denn den Schläger halten?“, fragte er, und hielt ihr die bandagierte Linke entgegengestreckt. Dabei war er Rechtshänder.
`Männer´, dachte Vera kopfschüttelnd. `Aber es könnte schlimmer kommen!´
Und es kam schlimmer.
Vera hielt das Plastikstäbchen fest in der Hand, als sie von der Toilette kam.
„Bernd?“
Sie folgte einer Spur weißer Tempotaschentücher, die durch das ganze Haus führten, wie Papierfetzchen bei einer Schnitzeljagd.
Die Fährte endete in der Küche, wo ein zusammengesunkenes Häufchen Mensch am Tisch saß.
„Hatschii! Haaatschiihihi!“
„Gesundheit,“ sagte sie munter.
„Gange“, kam es undeutlich zurück. „Vera? Ich buff ins Bett. Schdufpen, Kopfschberzen, Aals tut weh. Ich fühle bich so schwach und ziddrig.“
„Bestimmt kriegst du eine Erkältung,“ versuchte sie die Katastrophe klein zu halten. „Warum schluckst du nicht zwei Aspirin, nimmst ein Erkältungsbad und legst dich wieder hin?“
„Gein Ergältungsbad. Schwiddelig, Tabletted bleibed im Aals steckeb , sinn so bidder.“ Er schnaufte asthmatisch, schloss gequält die Augen.
Dann machte er das Grauen perfekt:
„Ich glaube, ich abe die Grippe. Die abiatische mimm dem schlibben Virus, an dem alle sterben ...“ ächzte er.
`Männer´, dachte Vera und warf einen Blick auf das Teststäbchen in ihrer Hand. `Gott sei Dank krieg ich das Baby.´
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