Go Shopping

Das Geistchen

Das Geistchen der Weihnacht
© Sabine Ludwigs

Die Weihnachtszeit war angebrochen und es waren nur noch wenige Tage bis zum Heiligenabend.

Im Wihenforst hatte der Förster die gut gefüllten Krippen aufgestellt. Die sonst munteren Bäche schlummerten unter silbernem Eis und die Äste der Tannen und Bäume lagen unter einer Schneedecke. Es hatte wieder angefangen zu Schneien. Dicke Flocken taumelten sanft zur Erde.

Tim Vollmer genoss die Stille und wanderte durch den knirschenden Schnee, als er plötzlich ein Zischen hörte. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, als etwas mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch die Luft sauste, ihn knapp verfehlte und in einer Schneewehe direkt vor ihm einschlug, fast wie ein Meteorit.

Pulverschnee wurde aufgewirbelt und hüllte Tim ein, wie ein Mottenschwarm.

Ein paar Vögel flatterten erschrocken aus einem Dickicht und flogen schimpfend davon.

Verwirrt schauter Tim um sich. Einen Moment lang glaubte er, dass jemand einen Schneeball nach ihm geworfen hatte, aber nein, dafür war es viel zu schnell gewesen. Dann sah er ein Männlein aus dem Einschlagkrater kriechen. Es rappelte sich auf, hustete und klopfte sich sorgfältig den Schnee von einem sehr blauen Mantel. Danach strahlte es Tim an: „Hallo!“

Tim sagte nichts, starrte das kleine Wesen mit den spitzen Ohren, dem Nektarinengesicht. und den himmelblauen Haaren einfach nur an.

„Heute ist dein Glückstag“, plapperte es munter. Dann warf es sicht stolz in die magere Brust. „Denn ich bin ein Wünschwas.“

Tims Augen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen. „Was ist das hier? Ein Spaß mit versteckter Kamera?“

„Wieso Kamera?“ fragte der Wicht. „Verstehe ich nicht. Ich bin bloß ein Wünschwas und das bedeutet, dass du einen Wunsch frei hast. Einfach so, weil du mir begegnet bist.“
„Wie im Märchen?“

Das Wünschwas nickte. „Wie im Märchen.“

„Weshalb?“, wollte Tim misstrauisch wissen.

„Weil das die Regeln sind, an die wir uns zu halten haben: Wenn ein Mensch einem Wünschwas begegnet, dann hat er einen Wunsch frei.“
„Ganz egal was ich mir wünsche?“

„Ja, völlig gleichgültig!“ Das Wünschwas hörte sich ein wenig großspurig an.

Jetzt lachte Tim. Er wusste ganz genau, wie sein Wunsch lautete. Schon immer hatte er sich gewundert, warum in den Sagen und Geschichten nie jemand darauf gekommen war: Er würde sich unendlich viele Wünsche wünschen!

„Gut, wenn das so ist, dann …“
„Entschuldige bitte!“, blökte das Wünschwas dazwischen. „Natürlich gilt das alles nur innerhalb der allgemein geltenden Wunderregeln für Fabelwesen und Sagengestalten, Zauberer, Feen, Hexen, Kobolde, Elfen, Engel und Wünschwasse. Und die besagen, dass du dir nicht unendliche viele Wünsche wünschen kannst. Artikel 1, Absatz 2.Tust du es doch, so vermag ich nicht diese zu erfüllen, denn es übersteigt meine Fähigkeiten. Leider.“ Es räusperte sich verlegen, und wich Tims Blick aus.

„Ach?“
Das Wünschwas nickte bedauernd, fegte Schnee von einem Baustumpf und setzte sich hin.

„Aber sonst geht alles?“, wollte Tim wissen.

„Natürlich. Das sagte ich doch schon!“

Tim schnaubte verächtlich.

„Außer die Sache mit den Gefühlen“, gab das Wünschwas kleinlaut zu. „Ich kann nicht die Gefühle der Menschen verändern. Ich kann schlechte Menschen nicht gut machen oder eine Frau dazu bringen, dass sie dich liebt.“

„Und?“

„Und … ich kann nichts Böses tun oder jemanden Schaden zufügen,“ flüsterte das Wünschwas. „Eingriffe in die Zeit sind tabu. Ich kann dir kein ewiges Leben oder unvergängliche Jugend schenken, keine Toten erwecken oder Wunderheilungen vornehmen. Dir die Macht zu geben, andere Menschen zu beherrschen oder ihre Gedanken zu lesen ist unmöglich. Unsichtbarkeit und die Verleihung von Flugfähigkeiten sind verboten. Ebenso kann ich dir keine Unverwundbarkeit schenken und keine magischen Kräfte …“ Nun war es kaum noch zu verstehen, so leise haspelte es die Sätze herunter.

Tim sagte nichts.

Das Männlein errötete. „Aber immerhin“, meinte es. „Immerhin bleibt dir ein Wunsch frei!“

Tim seufzte. „Also gut“, lenkte er ein. „Ein stark eingeschränkter Wunsch. Der will sorgfältig durchdacht sein . Wie wäre es mit Geld? Viel Geld?“

Das Wesen lachte schallend. „Das ist überhaupt kein Problem, wenn natürlich auch nicht sehr originell, oder? Wundert es dich wenn ich dir sage, dass sich jeder Reichtum wünscht? Einfach jeder! Man wird heutzutage magisch kaum noch gefordert. Dabei gibt es doch Dinge, die viel wichtiger im Leben sind. Aber gut - es soll so sein. Also mach schon und wünsche es dir, damit ich es hinter mir habe.“

Es stellte sich auf den Baumstumpf, zog einen silbernen Stab aus der Manteltasche und hob die Ärmchen in die Luft wie ein Zauberer.

„Was ist verkehrt an Geld?“ fragte Tim kleinlaut, und fühlte sich irgendwie schuftig.

„Nichts“, erwiderte das Wünschwas verächtlich, und ließ die Arme sinken. „Gar nichts. Aber Geld allein macht auch nicht glücklich. Schließlich kann man sich die wichtigen Dinge nicht kaufen!“

Das stimmte.

„Nun, wünschen kann man sie sich offensichtlich auch nicht“; entgegnete  Tim sarkastisch.

Darauf sagte das Männlein lieber nichts, sondern pfiff nur verlegen ein Weihnachtslied: Es ist für uns eine Zeit angekommen …

Ob es an dem Lied lag oder etwas anderem lag, hätte Tim nicht sagen können. Jedenfalls kam er ins Grübeln, was er sich denn gescheites wünschen könnte.

Außer Geld, und all den anderen wunderbaren Sachen, die ihm das Wünschwas nicht geben konnte.

Gesundheit? Klugheit? Künstlerische Fähigkeiten? Ja, er wollte schon immer gerne Geschichten schreiben, ein Autor werden. Das war`s!

„Ich möchte gerne ein berühmter Schriftsteller sein. Meinst du, das könnte ich mir wünschen?“
„Selbstverständlich, da sehe ich keinerlei Schwierigkeiten!“, krähte das Männchen vergnügt. „Das ist sogar ein ausgezeichneter Einfall! Du wirst weltbekannt, wahrscheinlich sogar reich!“ Es drückte ein funkelndes glaugraues Auge zu, und kicherte glucksend. „Und niemand wird wissen, dass dein Erfolg absolut nichts mit deinem Talent zu tun hat. Außer dir natürlich! Soll ich jetzt …?“

„Nein! Warte.“

Tim begann sich zu fragen, ob es tatsächlich so ein Glück war, dass er das Wünschwas getroffen hatte. Allmählich war sein sehnlichster Wunsch, dass sich das Wünschwas in Luft auflöste.

Aber er hatte so eine Ahnung, dass er es nicht wegschicken konnte, ohne diesen vermaledeiten Wunsch gewünscht zu haben. Wahrscheinlich war das in irgendeiner sonderbaren Regel genauestens festgelegt, unter Artikel soundso Absatz irgendwas. Also musste ihm etwas halbwegs vernünftiges einfallen, mit dem das Männlein zufrieden war. Und er. Wenigstens ein bisschen. Dann könnte er sich das Wünschwas vom Halse schaffen

Diese Aussicht heiterte Tim ein bisschen auf.

Es schneite heftiger und ihm wurde kalt. Er trat auf der Stelle, um wieder warm zu werden. Dann kam ihm endlich eine Idee.

„Wie wäre es, wenn ich den Wunsch verschiebe? Ich könnte wieder herkommen und dich rufen, wenn mir etwas eingefallen ist.“
„Vergiss es!“ Winkte das Männlein ab. „ Artikel 5, Absatz 7 A und B besagt, dass Wünsche weder aufschiebbar, noch übertragbar sind.

Nun hatte Tim wirklich die Nase voll von diesem verfluchten Wünschwas!

Er wollte nur nach Hause, sich ein Kaminfeuer anzünden und die Füße wärmen. Er wollte die Weihnachtsgeschenke einpacken, sich ein Festmahl ausdenken und in Ruhe und Frieden ein paar geruhsame Tage verbringen. Den Alltag vergessen, sich ausruhen, seine Familie besuchen. Wann war er eigentlich zuletzt bei seiner Mutter gewesen? Er wollte Freunde treffen und einfach den Zauber der Weihnacht in vollen Zügen genießen, nur für ein paar Tage vergessen, wie die Welt wirklich aussah – sich eine kleine Auszeit gönnen, um neue Kräfte zu schöpfen. Und vielleicht, um ein einigermaßen brauchbares Buch zu schreiben.

„Ich wünsche mir für mich, meine Familie und Freunde wunschlos glückliche Weihnachtstage, die wir gemeinsam verleben“, sagte er endlich.

Und da gab es einen so furchtbaren Knall, dass ihm beinahe das Herz stillstand.

„So wird es sein!“ rief das Wünschwas, und hüllte sich in eine Wolke aus Schnee und Nebel, in der es bald darauf verschwand.

Dann war es wieder still.

„Wahrscheinlich sucht es sich ein neues Opfer,“ murmelte Tim und empfand tiefes Mitleid mit dieser Person. Er machte sich auf den Heimweg, und begann leise vor sich hinzusummen.

Doch Tim irrte sich, was das Wünschwas anging. Das Wesen kam hinter einer große Tanne zum Vorschein. Dort zupfte es seinen Mantel zurecht und streckte ein paar dunkelblauer, glänzender Schwingen hervor.

„Feierabend für heute!“  sagte es zufrieden.

Eine winzige Flaumfeder löste sich und schwebte sacht zu Boden, als das Geistchen der Weihnacht seine Flügel spannte und in den Himmel stieg.

Es wird doch jedes Jahr schwieriger den Menschen etwas Vorfreude, Besinnlichkeit und Nächstenlieben einzubläuen, dachte das Weihnachtsgeistchen bei sich. Aber die Masche mit dem Wünschwas, die läuft ziemlich gut. Es lachte in sich hinein, als es von unten Tim hörte, der gerade lauthals die letzte Strophe eines Weihnachtliedes sang:

„Am hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen,
erfüllt die Herzen mit Seeligkeit.
Am hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen,
erfüllt die Herzen mit Seeligkeit.
Unterm sternbeglänzten Zelt,
wandern wir, wandern wir,

durch die weite, weiße Welt.“



----------------------------------------ENDE ------------------------------------