Cover Meine SeeleAcht tage bis zur Ewigkeit
© Sabine Ludwigs

Besucher

Am Morgen des elften April, es ist Ostersamstag, gibt es nichts mehr zu tun: Roselynes Wohnung und ihr Job sind fristgerecht gekündigt, die „Villa Himmelreich“ ist renoviert, die letzten Möbel sind unten auf dem Umzugswagen und sie ist ganz allein in der leeren Wohnung.
Der Gartenzwerg, der aussieht wie Simmel und den Claudia Schäfer Roselyne zum Andenken geschenkt hat, war das Letzte, was sie in den Umzugskarton gelegt hatte, ehe sie ihn mit langsamen Bewegungen verschloss.
Flüchtig denkt sie an das Abschiedsfrühstück mit den Kollegen zurück, die guten Wünsche und Werner Simmels knappen Vorschlag, sie solle weiterhin als Übersetzerin für „a-z translations“ tätig sein: auf Honorarbasis. Ein Vorschlag, der ihre Sorgen mildert. Der Job garantiert ihr zwar kein festes Einkommen, gewährleistet jedoch zumindest regelmäßige Einnahmen.
Dass sie ihm als Angestellte jederzeit wieder willkommen wäre, sollte sie daran denken zurückzukommen oder eine Stelle brauchen, sprach Simmel nicht aus. Es war, wie üblich, nicht nötig.
Noch einmal sieht Roselyne sich in den Räumen um, lässt ihre Blicke über bloße Wände, Böden und die nackten Fenster gleiten. Nichts ist geblieben außer ein paar hellen Schatten an den Wänden, da, wo Einrichtungsgegenstände standen oder Bilder hingen.
Ein Gefühl, als würde sie frieren, überzieht ihre Haut. Obwohl ihr nicht kalt ist. Nicht auf diese Art. Doch ihr bleibt keine Zeit für die aufsteigende Melancholie. Unten hupt jemand mehrmals kurz hintereinander und mahnt zur Eile. Vermutlich ihr Vater, der den Umzugswagen fährt, den er sich von einem Bekannten geliehen hat.
„Mach‘s gut“, sagt sie. Sie weiß nicht genau, zu wem und warum sie das tut. Ihre Stimme hallt in der Leere wider, ehe sie verebbt. Roselyne schlägt die Tür hinter sich zu.
Der kurze Konvoi setzt sich in Bewegung. Er besteht aus dem Umzugswagen, in dem neben Roselynes Vater auch sie selbst und Doro sitzen. Nicks und Maltes Jeep, die ihre Hilfe angeboten hatten, und Amélies Wagen, in dem Yvette und ein Mann namens Stefan Brauer mitfahren – den Amélie bisher nicht erwähnt hat und der kaum seine Augen von ihr wendet.
Der Ansturm der Osterurlauber auf den Straßen ist vorbei; die meisten haben ihre Ziele bereits erreicht. Daher kommen sie gut voran. Rasch wird die Landschaft unter dem beinahe sommerlichen Himmel ländlicher, grüner und ebener. Nach ungefähr vier Stunden Fahrt kurbelt Roselynes Vater das Fenster herunter. „Ich kann das Meer riechen“, behauptet er.
Sie nehmen die nächste Abfahrt, die Roselyne durch ihre Abstecher zur Villa Himmelreich bereits vertraut ist. Seitdem das Haus ihr und zu einem Teil der Bank gehört, ist sie an vielen Tagen hier herausgefahren. Allein stapfte sie zwischen den Handwerkern herum, um den Fortgang der Arbeiten zu begutachten. Wenn es voranging, freute sie sich und brachte das auch zum Ausdruck. Andersherum nahm sie kein Blatt vor den Mund, wenn etwas nicht glatt lief, zu langsam oder gar schlampig gearbeitet wurde. Gott sei Dank passierte das nur selten.
Sie nahm Maß für die Gardinen und Teppiche und für die neue Küche. Ihr Vater hatte ihr beim Tapezieren und Streichen der Zimmer geholfen. Es war eine ungewohnt anstrengende Arbeit für Roselyne. An manchen Abenden konnte sie kaum mehr die Arme heben und fiel wie tot ins Bett.
„Ich kann das Meer auch riechen“, stimmt Lyn ihrem Vater jetzt zu. In der Ferne reflektiert Wasser das Sonnenlicht. Sie kommen dem Glitzern rasch näher und damit dem Küstenstädtchen. Es liegt ein bisschen abseits vom Ferienrummel, hat jedoch alles Notwendige aufzuweisen, wie Roselyne Doro erklärt: ein Krankenhaus, Kirchen, Schulen, Lebensmittelmärkte und Handwerksläden, eine Eisdiele, mehrere Cafés und Restaurants.
Die Häuser schmiegen sich in die Umgebung, als wären sie daraus herausgewachsen. In der überschaubaren Marina schaukeln Segelboote auf den Wellen und in einiger Entfernung thront ein Herrenhaus, weiß und erhaben, inmitten von Ländereien und Pferdeweiden.
„Das Gutshaus ist sagenhaft!“, ruft Doro begeistert. „Fehlt nur noch, das Rhett Butler heraustritt! Oder wenigstes ein knackiger Landadliger.“
Sie lachen und Roselyne erklärt ihr, dass es sich um den Pferdehof „Drei Eichen“ handelt. „Die Villa Himmelreich gehörte ursprünglich als Gästehaus zu dem Anwesen. Aber weil das Haus zuletzt nur selten genutzt wurde und allmählich zu verfallen begann, hat sich der Besitzer entschlossen, es zu verkaufen. Es müsste gleich ... ah, da ist es!“
Als das Strandhäuschen in Sicht kommt, muss sie wieder an eine Perle denken. Und diese Perle gehört mir, frohlockt sie innerlich voll Besitzerstolz. Wenigstens beinahe.
„Einmalig, nicht wahr?“ ruft sie. „Und das Beste ist, dass es weit und breit keine Berge gibt.“
Darauf entgegnet keiner etwas.
Von der Villa Himmelreich bis zum Strand sind es gut zwanzig Minuten Fußweg; man kann die See vom Haus nicht sehen. Es ist nicht sehr groß, hat aber viele hohe Fenster mit Blick auf bewachsene Dünen und das einige hundert Meter entfernte Gut.
Es gibt fünf Zimmer, die über zwei Etagen verteilt sind, die geräumige Essküche und ein Bad. Die Schlafzimmermöbel sind eierschalenfarben und nagelneu. Das Bett steht unter dem riesigen Rundfenster im Dachgeschoss, durch das man geradewegs in den Himmel sieht. „Daher hat das Haus mit Sicherheit seinen Namen“, sagt Roselyne, die mit Doro zwei Kisten hereinträgt. Ihre Freundin ist neben Stefan und Malte die einzige Person, die noch nicht im Haus gewesen ist. „Wenn man hier liegt, hat man das Gefühl, man driftet mit den Wolken davon.“ Sie lässt sich in die aufgeplusterten Kissen fallen. „Klingt kitschig, was? Ich garantiere dir aber, dass es genauso ist!“ Sie klopft auf die Matratze. Doro streckt sich neben ihr aus. „Das ist einfach traumhaft!“, begeistert sie sich und schaut mit leuchtenden Augen durch das gläserne Rund. Eine Weile lassen sie sich in freundschaftlichem Schweigen dahintreiben, tauchen ein in das Himmelblau, und erst der Anblick einer Möwe, die über sie hinweggleitet, reißt sie aus ihren Träumereien. Widerwillig setzen sie sich auf, um sich an die Arbeit zu machen.
Bald stehen die Möbel an ihrem vorgesehenen Platz und die restlichen Kartons werden auf die jeweiligen Zimmer verteilt und ausgepackt.
In dem Raum neben dem Schlafzimmer kontrollieren Nick und Malte, ob Telefon- und Internetzugang, der Computer und das Faxgerät in Roselynes winzigem Büro funktionieren.
Ihre tiefen Stimmen ähneln der Eriks und erinnern sie an früher, als sie noch alle beisammen waren. Roselyne ertappt sich zwei oder drei Mal dabei, dass sie unwillkürlich auf das Einsetzen dieser fehlenden dritten Stimme wartet, was ihr jedes Mal einen Stich versetzt. Umso mehr, da sie häufig Nicks Blick auf sich gerichtet fühlt, der so blau ist wie Eriks. Was schmerzt.
Denkst du manchmal an Nicks Kuss?
Nein.
Doch.
Als gut: manchmal.
Sie hatte nach diesem Abend auch weiterhin nicht auf Nicks beharrliche Anrufe reagiert. Trotzdem scheint er nicht böse zu sein und bot gleich seine Hilfe an, als sie ihm auf Amélies Drängen hin von ihrem Wegzug erzählte. Sie brachte es nicht über sich abzulehnen.
„Lyn?“, ruft ihr Vater von der Haustür her.
„Ja?“, fragt sie im Näherkommen.
„Das verdammte Schloss schließt nicht richtig. Sieh mal.“ Er geht hinaus, zieht die Tür zu und drückt sie ohne Mühe wieder auf. „Es schnappt nicht ein“, ergänzt er so vorwurfsvoll, als hätte Roselyne das zu verantworten. „Jedermann kann hier jederzeit hereinspazieren.“
„Vorausgesetzt, er weiß, dass es kaputt ist. Außerdem wimmelt es hier nicht gerade von Menschen, oder?“
„Stimmt schon. Trotzdem. Du musst sofort nach Ostern einen Schlosser bestellen. Bis dahin schließ immer ab.“
Sie versichert ihm, sie werde das tun, und fügt in scherzhaftem Ton hinzu, dass sie schließlich gut bewaffnet sei, während sie den Kai-Messerblock aus einem der Kartons nimmt und gut sichtbar auf dem Küchentresen platziert. „Zur Abschreckung etwaiger Eindringlinge“, meint sie.
Die Messer mit den schwarzen Klingen weisen tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit eleganten Stichwaffen auf, was Erik stets faszinierte. Da sie nicht gerade billig waren, hatte er sie nach und nach angeschafft. Zwei davon waren gemeinsame Erwerbungen. In diesem Block stecken sieben Messer – das Fischmesser, das sie zu Weihnachten bekommen hat, mitgezählt.
Sie schaut weg, nimmt die letzte Kiste, auf die sie „Schlafzimmer“ geschrieben hat, und verschwindet damit wieder die Treppe hinauf.
Es ist Roselynes Mutter, die gerade mit Doro Lebensmittel und Vorräte in der Küche verstaut, die ihr Weinen zuerst hört. In der nächsten Minute steht Roselyne auch schon aufgelöst da, und ihre Haare sehen so unordentlich aus, als wäre sie einige Male mit den Fingern hindurchgefahren. In den Händen hält sie ein ölgetränktes Kistchen, das stark nach Lavendel riecht.
„Die Origamis!“, stößt sie hervor. „Sie sind kaputt! Ein Fläschchen Duftöl ist ausgelaufen und ... und ...“ Sie kann nicht weitersprechen.
Ratlos stehen alle im Halbkreis um Roselyne herum. Die Papierfiguren sind völlig durchweicht. Zusammengesackt liegen sie da wie matschige Häufchen.
„Alle sind ruiniert“, wiederholt Roselynes fassungslos. „Jedes einzelne.“ Ihre Stimme ist schwer von Kummer.
„Scht, scht, scht“, macht Yvette beschwichtigend und streicht ihr über das Haar. „Calme-toi. Beruhige dich. Wir lassen sie trocknen, vielleicht sind ein paar zu retten.“
„Meinst du?“ Zweifelnd schaut Roselyne auf den Papierbrei.
„Mais oui! Tu verras, mon cœur: Bestimmt kriegen wir das hin.“

Mittlerweile ist es früher Nachmittag. Nach getaner Arbeit sitzen sie bei kalten Getränken und belegten Brötchen auf der Veranda, als der Mann auftaucht. Groß und aufrecht trabt er auf einem pechschwarzen Andalusier heran. Seine langen Beine stecken in Jeans und er trägt ein dunkles Hemd, dessen Ärmel er lässig aufgekrempelt hat. Das wellige, ein wenig zu lange Haar leuchtet wie reife Kastanien. Ohne Eile zügelt er das Tier und sitzt ab.
„Sieh mal einer an“, Doro kichert anerkennend. „Da haben wir unseren Landadligen.“ Sie beäugt den Fremden nicht ohne Interesse.
Roselyne fühlt, dass sie rot anläuft. Sie stupst Doro in die Seite, die unbeeindruckt weiter starrt. Sie setzt sich sogar gerader hin, wohl um ihren Busen vorteilhafter zur Geltung zu bringen. Warum es Roselyne stört, kann sie selbst nicht begreifen. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass Doro so etwas tut. Und es wird wohl auch nicht das letzte Mal sein. Trotzdem macht sich leichter Unmut in Roselyne breit und ein Stimmchen in ihrem Kopf fragt: Was soll das?
„Hallo und guten Tag“, ruft der Besucher und bindet die Zügel um einen Zaunpfosten. Er öffnet das weiße Holztor. „Darf man eintreten?“
Er tut es erst, nachdem Roselynes Vater ihn darum bittet. „Ich bin Ruben Eichinger, Ihr Nachbar.“ Vage deutet er in Richtung Gutshaus. „Ich wohne drüben auf „Drei Eichen“. Ich war gerade auf dem Heimweg, da sah ich Sie hier draußen sitzen und dachte mir, ich mache einen kurzen Umweg, um guten Tag zu sagen.“ Er schüttelt jedem die Hand. Roselynes ist die letzte, die er in seine nimmt. Sein Händedruck ist warm und stark. Sein Griff wird so fest, dass sich Roselynes Blut staut. Ihre Finger kribbeln, doch sie zieht die Hand nicht zurück und nennt ihren Namen.
„Ah, dann sind Sie die neue Besitzerin?“
„So ist es.“
„Herzlich willkommen! Ich freue mich, dass wir eine neue Nachbarin haben. Noch dazu eine so sympathische.“
Sie bedankt sich und fragt Ruben, ob er Lust auf einen Kaffee oder was Kaltes hat.
„Zu einem kühlen Bier würde ich nicht Nein sagen.“
Also holt Yvette das Gewünschte, während die übrigen enger zusammenrücken. Pierre bringt noch einen Stuhl, den er neben Roselynes quetscht. Sie sitzen so eng beieinander, dass sie Ruben riechen kann: eine Mischung aus Pferd, Seeluft und Sandelholz.
Erik duftete nach Bergamotte, Eichenholz, nach Nelke und Ambra. Mit einem Mal sehnt sich so heftig nach ihm und seinem Duft, dass sie sich zwingen muss, am Tischgespräch teilzuhaben, indem sie wenigstens zuhört.
Sie reden über dies und das: das Wetter, das für April beinahe wie im August anmutet, über die Urlauber, die es ans Meer lockt, und über Watersby, das vom Tourismus noch nicht überlaufen ist.
Schließlich erkundigt sich Roselynes Vater nach einem Schlosser.
„Gibt es ein Problem?“, fragt Ruben sofort. „Kann ich helfen?“
„Das Haustürschloss ist kaputt“, antwortet Roselyne. Ruben erhebt sich und folgt ihr, um sich den Schaden zu anzusehen. Die Scharniere quietschen, als er die Tür öffnet. „Das sieht nicht gut aus. Ich fürchte, ich kann da nichts machen. Der Zylinder ist kaputt. Aber Arno kriegt das wieder hin!“, fährt er fort und zieht die Tür zu. „Arno Weidner ist der einzige Schlosser im Ort. Sie können ihn gar nicht verfehlen, die Schlosserei ist direkt am Markt, gegenüber der Petruskirche.“ Er erklärt Roselyne den Weg, wobei sich ihre bloßen Arme unabsichtlich streifen.
Die Härchen auf ihrer Haut richten sich auf wie unter einem unsichtbaren Kraftfeld.
Seine auch.
Beide halten inne.
Eine verwirrende Anziehungskraft schwebt in der Luft, irgendetwas Eigenartiges.
Sie weicht zurück und vermeidet es sorgfältig, Ruben zu berühren. Einerseits will sie nicht wiederholen, was eben geschehen ist. Andererseits möchte etwas in ihrem Innern noch einmal das Kitzeln auf der Haut spüren.
Das alles spielt sich in Sekunden ab.
Rubens Gesicht zeigt keine besondere Regung. Seine Miene ist so ausdruckslos, dass Roselyne nun sicher ist, sich das eben nur eingebildet zu haben.
„Danke“, sagt sie. „Ich werde die Schlosserei bestimmt finden.“ Es gelingt ihr, ganz normal zu sprechen. Jetzt hat sie sich wieder im Griff und kehrt mit Ruben zu den anderen zurück.
In der Ferne ist plötzlich Donnergrollen zu hören, worauf das Pferd unruhig wird und wiehert.
„Da braut sich was zusammen. Und Wotan will sicher in seinem Stall stehen, bevor es losgeht.“ Ruben geht zu ihm, tätschelt beruhigend seine Flanke. „Ist es nicht so, Wotan?“
Zum Vergnügen aller schnaubt das Tier und nickt mit dem mächtigen Schädel.
„Zeit, sich zu verabschieden“, stellt Ruben fest. Er setzt sich auf den tänzelnden Hengst und schaut auf das Grüppchen herunter. „Also, es hat mich gefreut, Sie alle kennenzulernen! Vielen Dank für das Bier. Und schöne Ostertage!“ Er hebt die Hand zum Gruß. „Wir sehen uns sicher bald wieder, Roselyne.“

Es sieht nach einem typischen Unwetter in Küstennähe aus, das binnen kurzem über sie hereinbrechen wird, behauptet Yvette – die nie am Meer gelebt hat. „Ich möchte vorher aufbrechen, Pierre“, drängt sie ihren Mann. „Und wir müssen noch den Laster zurückbringen, n'est-ce pas?“
Sie räumen auf und verabschieden sich unter großem Hallo, als es am Horizont bereits dunkelblau zu brodeln beginnt.
Amélie und Stefan machen den Anfang und fahren mit Doro los, dicht gefolgt von dem hupenden Umzugswagen. Malte umarmt Roselyne, setzt sich dann hinter das Steuer und beschäftigt sich mit dem Navigationssystem.
Nick presst seine Wange gegen ihre. „Du hättest über Ostern bei deinen Eltern bleiben sollen“, murmelt er dicht an ihrem Ohr. „Oder bei Amélie. Oder Doro.“
„Das sehe ich anders.“ Sie rückt ein wenig ab. „Nach dem Umzugsstress brauche ich ein bisschen Ruhe. Außerdem möchte ich mich hier, so schnell es geht, einleben. Das ist jetzt mein Zuhause.“
„Bist du da wirklich sicher?“
„Natürlich.“
„Ich könnte“, er zögert, die nächsten Worte auszusprechen. „Ich meine, ich könnte bis morgen oder übermorgen bleiben. Oder für länger. Falls du es möchtest.“ Er schaut sie unverhohlen an, als er es sagt. Und er ähnelt Erik dabei so sehr, dass es ihr den Hals zuschnürt. Ein zaghaftes Gefühl der Zuneigung keimt in ihr auf. Dennoch lehnt sie sein Angebot ab. „Das ist lieb von dir, aber nicht nötig.“
„Warum nicht? Wovor fürchtest du dich?“
„Vor nichts. Ich denke, es wäre einfach nicht gut.“
„Was ist schlecht daran?“
„Ich sage nicht, dass es schlecht ist. Mir steht nur nicht der Sinn nach Gesellschaft.“
„Ich vermute, du hast Gewissensbisse, wenn ich bei dir bin. Dafür gibt es keinen Grund. Aber gut. Ich respektiere das. Dann mach‘s gut.“
„Du auch. Bis bald.“ Roselyne ist froh, dass sie dies ohne Zittern in der Stimme sagt. Sie kann den Schmerz in ihrer Brust jedoch nicht bezwingen, als sie den Blick aus seinen blauen Augen zu lange erwidert. Am liebsten würde sie alles wieder rückgängig machen und ihn bitten zu bleiben! Doch der Augenblick geht vorüber.
„Naja, ‚Bis bald‘ hört sich doch ganz vielversprechend an.“ Noch einmal zieht Nick sie an sich. Sein Mund streift ihre Schläfe. Es ist keine zufällige Berührung. Er lächelt schwach, geht zum Wagen und setzt sich auf den Beifahrersitz neben Malte. Bald ist der Jeep nicht mehr zu sehen.
Minutenlang schaut sie die leere Straße hinunter, als sie bemerkt, dass kein Wind mehr geht. Nicht die sachteste Brise.
In der Ferne, auf den Weiden, stehen winzige Pferde wie Zinnfiguren neben erstarrten Bäumen. Der Anblick erinnert an eine kalligrafische Tuschezeichnung aus Japan, die Erik von dort mitgebracht hatte. Nichts und niemand regt sich. Die herabfallende Stille ist minutenlang absolut.
Die Luft beginnt zu knistern; Roselyne spürt ein Prickeln an den Haarwurzeln, als sich ihr Haar statisch auflädt. Und zwar jedes einzelne.
Unglaublich schnell wird der Azur des Himmels von pflaumenfarbenen Wolken verschlungen, hinter denen es wetterleuchtet. Trotzdem will die Temperatur nicht fallen.
Eine Böe brandet heran. Wild greift sie in Roselynes Haare, weitet sich aus, schüttelt Baumkronen und tost über die grasbewachsenen Dünen.
Die Welt ist aus ihrer Erstarrung erwacht. Roselyne sieht die Pferde mit gestreckten Schweifen auf ihre Stallung zurasen. Sie atmet ein, tief und seltsam erregt.
Nun wird es doch spürbar frischer. Die Temperatur fällt rasch und es riecht nach Sturm. Sie wartet auf den Regen, auf das Rauschen und Prasseln platzender Tropfen, das jedoch nicht kommt.
Nur ein Blitz rast urplötzlich durch den bleiernen Brodem, ein Kugelblitz, der irgendwo bei den Weiden einschlägt. Nie zuvor hat sie etwas ähnliches Phänomenales gesehen! Er ist von außergewöhnlichem Rot und so grell, dass sie geblendet die Augen schließt und fest zusammenpresst. Sie schreit auf, als die Ausläufer einer leichten Druckwelle sie zu streifen scheinen. Es kribbelt, wie wenn sie an Kriechstrom angeschlossen wäre, und ihr Körper fühlt sich taub an.
Und dann ist alles so schnell vorbei, wie es begonnen hat. Der Sturm, der Blitz, das Toben. Sie hebt vorsichtig die Lider. Kneift sie wieder zu, und noch einmal. Doch noch immer sieht sie nur ein Nachleuchten. „Himmel!“, keucht Roselyne. „Himmel! Was war das denn?“
Irgendwann kann sie wieder einigermaßen sehen und tappt ins Haus, ohne an das defekte Türschloss zu denken.

Obwohl sich der Abend merklich abgekühlt hat, ist es eigentlich zu warm für ein Feuer. Trotzdem sitzt sie im Wohnzimmer vor dem Kamin. Sie schaut dem Tanz der Flammen zu, die warm sind und lebendig scheinen. Sie haben etwas Beruhigendes, Besänftigendes und ihr Licht erinnert sie an die Kaminkerzen in ihrem Schlafzimmer am Westpark.
Und an Erik.
Brennende Tränen steigen auf.
Heute ist er genau ein halbes Jahr tot. Ihr gemeinsames Leben, die kurzen fünfzehn Monate, die sie mit ihm verbracht hat, laufen vor ihr ab. Schnell, viel zu schnell, und die Zeit lässt sich nicht zurückspulen. Nicht verändern.
Es geht ihr nicht gut dabei. Alles in ihr schmerzt. Aber sie kann nicht anders, sie muss diesen Erikfilm andauernd abspielen. Es ist, als träumte sie in wachem Zustand, und am Ende nimmt sie den Traum mit hinüber in den Schlaf; aus dem sie irgendetwas aufweckt.
Das Feuer ist nur noch schwelende Glut unter der Asche und es ist ziemlich frisch im Zimmer. Sie reibt sich die Augen und überlegt, wovon sie aufgewacht ist.
Wie als Antwort auf ihre Gedanken ist es da, das Geräusch: ein kaum hörbares Quietschen von Scharnieren. Oder ist es das Flüstern ihres Namens?
Was auch immer; es kommt aus der Dunkelheit von der Diele her. Roselyne sträuben sich die Haare. Sie richtet sich auf. Sie schaut über die Sofakante hinweg. All das tut sie zögernd, mit zu langsamen Bewegungen, aber schneller gehorchen ihre Glieder nicht.
Wie damals, auf dem Berg.
Bis auf die verglimmende Glut und fahles Mondlicht ist es dunkel. Ihr Atem wispert hörbar. Also hält sie ihn an. Sie lauscht über das dumpfe Trommeln ihres Herzens hinweg, ob jemand im Haus ist. Aber das bringt sie nicht weiter.
Deshalb ruft sie „Hallo?“, ohne Hoffnung, dass jemand antworten wird.
Kühle weht zu ihr herein und streift sie. Roselyne versucht mit ihren Blicken die Dämmerung zu durchdringen, erkennt Umrisse – die Standuhr, die Bücherregale, den Beistelltisch, die Kommode – aber keine Einzelheiten, nichts ist deutlich, alles bleibt schemenhaft.
Unbeholfen kommt Roselyne auf die Beine. Sie funktionieren nicht gut, sind zu weich in den Knien. Es dauert scheinbar endlos lang, ehe es ihr gelingt, in die Diele in Richtung Durchzug zu stolpern.
Die Haustür steht auf. Sperrangelweit. Nachtschatten fallen herein und werden eins mit den Schatten im Haus. Einer der schwarzen Umrisse da draußen sieht aus wie ein Mann, der zu ihr hinstarrt.
Sie starrt zurück. Dahin, wo eigentlich das Gesicht sein müsste. Die Augen. Sie ist paralysiert wie das berühmte Kaninchen, das auf eine Schlange trifft. Eine gefühlte Ewigkeit verstreicht.
Jetzt hebt der Schattenmann eine Hand und streckt sie nach ihr aus, als ob er nach ihr greifen will.
Sie weicht zurück und schreit. Es ist ein langgezogener, schriller Ausdruck ihrer Angst, und sie presst ihre Fäuste gegen das wahnsinnige Wummern hinter ihrem Brustbein.
Blätter rascheln im Nachtwind, die Schatten bewegen sich, verändern sich, kommen zur Ruhe und werfen ein nächtliches Blattmuster von Bäumen und Büschen auf die Erde. Sonst ist da nichts.
Und niemand.
Natürlich nicht.

Begegnungen

Die Sonne geht auf und der Morgenwind bläst Roselyne entgegen, als sie mit vor der Brust gekreuzten Armen am Strand steht. Zufrieden schaut sie auf das Wasser. Soeben hat sie das Exposé für „Sagenhaft“ abgeschlossen. Sie hatte eh nicht mehr schlafen können und die ganze restliche Nacht damit zugebracht. Besonders der Anfang wollte ihr einfach nicht glücken. Auch eine Brücke zwischen kurz, aber in sich stimmig zu schlagen, erwies sich nicht gerade als ein Zuckerschlecken! Zumal es hier keinen roten Faden wie in einem Roman gab, dem sie folgen konnte. Sie hatte das Exposé wieder und wieder verbessern müssen und geglaubt, es niemals fertig zu bekommen. Ihr schwirrt noch immer der Kopf!
Roselyne zieht die Schultern hoch. Die Luft ist eigentlich nicht kalt. Trotzdem fröstelt es sie. Erst im Nacken, dann in der Wirbelsäule, schließlich überall. Bis ihr mit einem Schlag klar wird, dass sie nicht friert, sondern sich unwohl fühlt. Beobachtet, um genau zu sein. Ganz so, als wenn ihr unsichtbare Blicke folgen und ihren Rücken abtasten würden.
Sie dreht sich einmal um sich selbst, sucht mit den Augen die Umgebung ab, entdeckt in der Ferne aber nur zwei kleine Menschlein mit einem Hund, die langsam größer werden, je näher sie kommen.
Ansonsten ist sie allein. Es gibt nur sie und die Wasservögel, den Sand unter ihren Füßen und das Meer. Das Wasser hat die Farbe der aufgehenden Sonne angenommen, sodass die Wellen, die gleichmäßig an die Küste rollen, beinahe aussehen, als wären sie aus geschmolzenem Gold. Ein stetiges Plätschern liegt in der salzigen Luft, lauter, als sie es sich vorgestellt hatte.
Langsam geht sie noch dichter an das Wasser, da leckt unversehens die Brandung an ihren Leinenschuhen. Sie macht einen Hopser zurück und wackelt mit den unbestrumpften Zehen. Mit feuchten Füßen spaziert sie weiter am Ufer entlang, bis sie zu ein paar flachen Felsen kommt, die einladend im Sonnenlicht ruhen.
Roselyne kann nicht widerstehen. Sie klettert hinauf, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und legt sich bequem zurück. Wie im Urlaub, denkt sie träge und bei der Vorstellung, dass sie hier lebt, freut sie sich.
In wenigen Stunden wird der Strand sicher mit Touristen übervölkert sein, die sich auf Badelaken und in den Strandkörben hungrig der Sonne entgegenrecken, die jetzt aber noch schlummernd in ihren Betten liegen oder beim Frühstück sitzen.
Etwas Warmes, Feuchtes presst sich kurz in Roselynes Gesicht und lässt sie mit einem Quietschen auffahren. Ein Beagle mit karamellfarbenen Ohren und ebensolchen Flecken auf dem hellen Fell grinst sie vorwitzig an.
„Oskar“, ruft im gleichen Moment eine Frau vorwurfsvoll. „Komm sofort hierher!“
Der Hund äugt gelassen in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und grinst dann weiter Roselyne an.
„He, Oskar, du beißt hoffentlich nicht?“, fragt sie und streichelt ihm über den Kopf; was das Tier mit einer Art wohlgefälligem Grunzen hinnimmt.
„Guten Morgen, und frohe Ostern“, ruft Roselyne der dunkelhaarigen Frau von etwa Ende fünfzig zu, die ihren Gruß herzlich erwidert.
„Das ist Oskar“, fährt die Frau fort und deutet auf den Beagle. „Der Ungehorsame. Ich bin Helen Volkert und das ist mein Mann Kurt.“
„Frohe Ostern!“ Ein untersetzter Mann mit schütterem Haar und schelmischer Miene nickt ihr zu.
Roselyne nennt ihren Namen. Sie klettert von der bröckelnden Felsenterrasse herunter und schüttelt beiden die Hand.
Kurt Volkert bückt sich und hebt wie zur Veranschaulichung einen grünlichen, birnenförmigen Stein auf, den Roselyne losgetreten hat. Eingehend betrachtet er ihn. „Wussten Sie eigentlich, dass das Wort Avocado aus dem Aztekischen kommt?“, fragt er.
„Äh ... nein.“
„Oh ja.“ Er nickt bedächtig. „Es bedeutet so viel wie Hoden.“ Der birnenförmige Avocadostein ist offenbar doch nichts Besonderes und fliegt im hohen Bogen ins Meer, wo er mit einem Platschen versinkt.
Roselyne bleibt stumm.
„Ach, Kurt“, tadelt ihn seine Frau. „Du erschreckst die junge Frau noch! Kein Mensch interessiert sich für diesen Kram!“ Und zu Roselyne: „Entschuldigung, aber er liest gerade eines dieser Bücher, die randvoll sind mit unnützem Wissen. Nun will er jeden daran teilhaben lassen. Es ist einfach grauenhaft!“
Kurt zuckt amüsiert mit den Schultern. „Tu ich für die Kunden“, behauptet er. „Für die muss man stets auf dem Laufenden sein.“
„Mein Mann und ich haben eine Buchhandlung im Ort“, ergänzt Helen. „Der Bücherwurm.“
Wie selbstverständlich schlendern sie gemeinsam weiter und Roselyne antwortet auf die unverblümt gestellten Fragen von Frau Volkert:
Es stimmt, sie hat das Häuschen von Herrn Krieger gekauft und wohnt dort allein. Sie arbeitet seit Kurzem als freie Übersetzerin. Nein, sie wusste nicht, dass man auf dem Gut „Drei Eichen“ ehemalige Strafgefangene beschäftigt, hält es aber, ebenso wie die Volkerts, für eine gute Sache und hat deswegen keine Sorge, da es sich nicht um Schwerverbrecher handelt. Nein, sie besitzt keinen Hund und auch kein anderes Tier, und sie gesteht auf Kurts Nachfrage hin, bisher keine Ahnung gehabt zu haben, dass Katzen über 32 Ohrmuskeln verfügen.
Ja, sie fände es ebenfalls nett, wenn man sich gegenseitig beim Vornamen nennt – als Quasinachbarn. Und auch sie freut sich über den sommerlichen Frühling und denkt nicht, dass dieses Wetter mit dem Klimawandel zu tun hat. „Auf jeden Fall besser als verregnete Ostertage“, sagt sie.
„Wussten Sie, dass es in London weniger regnet als in Rom?“ Kurt Volkert schielt zu ihr hin.
„Kurt!“, stöhnt Helen.
„Das wusste ich nicht.“ Roselyne lacht und schaut sich gleichzeitig nach dem Beagle um. Oskar belauert irgendwas. Er bleibt stehen, schaut ins Leere, als würde er jemanden beobachten. Kurz darauf vollführt er aufgeregte Sprünge.
„Oskar“ ruft Helen ungeduldig. „Hierher, du verrücktes Tier.“
Gehorsam kommt der Hund angeflitzt und verschlingt das Leckerli, das Helen ihm reicht. „Ich frage mich, warum Tiere das manchmal tun?“ Helen schaut Oskar nach, der nun vornweg rennt und einige Möwen verbellt, die einfach nicht auffliegen wollen.
„Was manchmal tun?“, fragt Roselyne.
„Na, stehen bleiben und eine leer Stelle anstarren, als stünde dort jemand. Oskar macht das hin und wieder. Bei Bella, der Katze von Kurts Schwester, ist es dasselbe. Eben schläft sie noch, und plötzlich steht sie auf und beobachtet mit großem Interesse – offenbar nichts.“
„Meine Schwester findet es unheimlich“, mischt Kurt sich in das Gespräch.
„Ich glaube, jeder, der ein Haustier besitzt, hat das schon einmal erlebt.“
„Nun“, schmunzelt Helen. „Vielleicht können sie tatsächlich etwas sehen, was uns entgeht.“
„Was zu Beispiel?“
Helen zuckt die Schultern und eilt rufend hinter Oskar her, der zu weit vorausgelaufen ist.
„Wussten Sie eigentlich, Roselyne, dass der Fangschreckenkrebs hunderttausend unterschiedliche Farben erkennt? “
„Fangschreckenkrebs?“ Sie lacht wieder. „Bisher wusste ich nicht mal dass es dieses Wesen gibt!“
„Das wundert mich nicht. Er lebt in tropischen Korallenriffen und kann, wie gesagt, hunderttausend unterschiedliche Farben erkennen. Stellen Sie sich das einmal vor! Und nicht nur das: Seine Facettenaugen sehen dreidimensional und vielschichtiger als jede künstliche Linse – davon kann ein Mensch bloß träumen!“
„Dagegen sind wir ja quasi blind.“
„Könnte man sagen. Wenn wir unsere Sinneswahrnehmungen mit denen einiger Tiere vergleichen, schneiden wir sowieso ziemlich schlecht ab! Das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Knallrot ist nur für unsere Augen knallrot. Frischgebackenes stinkt für besser entwickelte Nasen zum Davonlaufen. Und wenn Sie glauben, es wäre mucksmäuschenstill, ist um Sie herum tatsächlich alles voller Töne. Das ist die Realität, von der wir nichts mitbekommen.“
„Also sind wir ziemlich unterentwickelt.“
„Unsere Sinne, ja. Im Vergleich zu einigen anderen Lebewesen auf diesem Planeten auf jeden Fall. Es existieren Mottenarten, die besitzen nicht einmal eine Nase, aber ihr Geruchssinn, es handelt sich um Riechhärchen, ist hundertmal feiner als der unsere.“
„Faszinierend“, sagte sie und meinte es auch so.
„Mhm. Wussten Sie, dass manche Tiere sogar Sinne haben, über die wir gar nicht verfügen? Und zwar nicht mal ansatzweise! Es gibt eine Schlangenart, die mit einem bestimmten Organ winzigste Veränderungen der Temperatur registriert. Oder denken Sie an den Zitteraal! Er hat einen Elektrosinn, mit dem er Stromspannungen spürt, die für uns unwahrnehmbar sind.“
„Das ist beeindruckend.“
„Ganz meiner Meinung.“
„Trotzdem“, spinnt Roselyne das Gespräch weiter, „glauben die meisten von uns, alles zu wissen und für alles eine passende Erklärung parat zu haben.“
„Ganz genau! Vielleicht, weil es uns die Angst nimmt.“
„Die Angst wovor?“
„Vor dem Unbekannten. Wussten Sie, dass die Angst vor dem Unbekannten die stärkste, am weitesten verbreitete Form der Angst ist? Vermutlich ist sie so alt wie die Menschheit selbst. Angst vor der Zukunft zum Beispiel. Oder die Angst vor dem Tod.“
Helen stößt wieder zu ihnen und schnauft, dass Oskar mit Sicherheit an HADS, dem Hunde-Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, leidet.
An dem Dünenpfand, der zur Villa Himmelreich führt, verabschieden sie sich voneinander. Der Einladung der Volkerts, sie bald in ihrem Buchladen zu besuchen, verspricht Roselyne nachzukommen.
Helen deutet auf Roselynes klamme, mit Sand verklebte Schuhe. „Sie sollten sich ein paar Gummistiefel zulegen“, rät sie. „Die sind praktisch und Sie können sie hier auf jeden Fall gut gebrauchen.“
„Das mache ich. Vielen Dank für den Tipp!“
„Wussten Sie“, sagt Kurt und schaut auf seine blau gestiefelten Füße herunter, „wussten Sie eigentlich, dass Nokia früher Gummistiefel hergestellt hat?“
„Nun ist es aber genug, Kurt!“, wirft Helen in bestimmtem Ton ein. Sie zieht ihren Mann mit sich fort, der weiter unbekümmert auf sie einredet. So wie die Volkerts und Oskar vorhin beim Näherkommen stetig größer wurden, schrumpfen sie jetzt, je weiter sie sich wegbewegen. Von ferne hört Roselyne übermütiges Kläffen. Es wird leiser, dann ist es ganz verschwunden.

Sie wendet sich ab und geht auf das Haus zu, da sieht sie ihn. Zuerst denkt sie, der Reiter, der ihr entgegenkommt, ist Ruben.
„Hallo“, ruft sie und winkt spontan. Zu spät erkennt sie, dass sie sich geirrt hat. Der Mann ist gar nicht Ruben; er sieht auch ganz anders aus.
Er hat hellbraunes Haar und ebensolche Augen und ist auf eine eher weiche Art gutaussehend.
„Oh“, ruft sie, als er den Braunen zügelt. „Ich habe Sie verwechselt. Tut mir leid.“
„Mir hingegen tut es kein bisschen leid.“ Der Reiter steigt ab. Er mustert sie rasch, und ihr drängt sich der Begriff „Kennermiene“ auf. Was er sieht, scheint ihm zu gefallen. Sein lächelnder Mund zieht sich noch mehr in die Breite. „Es tut mir ganz und gar nicht leid!“ Er streckt ihr die Rechte hin. „Hallo, Sie müssen Roselyne Weiß sein. Ich bin Sven Krönert. Und nein, ich bin kein Hellseher, was Ihre Person angeht. Es ist nur so, dass sich große Neuigkeiten im kleinen Watersby schnell verbreiten.“ Er macht eine sekundenlange Pause, bevor er mit schmeichelnder Stimme weiterspricht: „Besonders, wenn die Neuigkeit so hübsch anzusehen ist.“
Roselynes „Ach?“ ist eine Mischung aus leichter Verlegenheit und Geschmeicheltsein. „So ist das also.“ Betont forsch ergreift sie die dargereichte Hand. Sie ist trocken, schwielig und liegt schwer in ihrer eigenen. Eine Arbeiterhand.
„In mir keimt der Verdacht auf“, fährt sie fort, „dass sich sämtliche Bewohner von Watersby zu einem morgendlichen Stelldichein verabredetet haben, um die Zugezogene zu begutachten.“
Sven Krönert lacht laut. Er beobachtet, wie sie eine silberblonde Haarsträhne hinter das Ohr streift. Er tut es nicht beiläufig, sondern intensiv und so, dass sie es bemerken muss. Es hat etwas Flirtendes an sich. Er deutet mit dem Kopf in Richtung Strand. „Sie meinen sicher Helen und Kurt, den Mann mit dem profunden Wissen? Die beiden kommen jeden Morgen mit Oskar hierher. Bei Wind und Wetter; ich hingegen nur gelegentlich und ich bin auch nicht aus dem Ort, sondern vom Gutshof.“
„Sie meinen von „Drei Eichen“?“
Er nickt und zieht den Kopf weg, als das Pferd beginnt an seinen Haaren zu knabbern. „He, Kriemhild, lass das!“
„Sie arbeiten dort?“
„Ja.“ Er holt einen Apfel aus seiner Jackentasche und hält ihn Kriemhild unter die Nüstern. Die Frucht verschwindet rasch zwischen den Pferdelippen. Es knirscht, als die Stute sie genüsslich zermalmt. „Und da wir Grenznachbarn sind, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Die meisten Anwohner halten es hier so. Oder kommt das zu plötzlich?“
„Das ist in Ordnung.“
„Prima.“ Svens Augen funkeln jungenhaft, und sie kann sich einfach nicht bedrängt fühlen, als er in einem neckenden Tonfall sagt: „Auf einen Kuss, wie beim Brüderschafttrinken üblich, darf ich wohl nicht hoffen?“
Nun ist es Roselyne, die lacht. „Ganz sicher nicht!“, sagt sie. „Zumal wir nichts zum Anstoßen haben.“
„Schade. Na ja. Ich habe auch nicht wirklich daran geglaubt.“
Sie folgen langsam dem Pfad, Kriemhild trottet hinter ihnen her, zupft hie und da am Dünengras.
„Was für eine Arbeit tust du auf dem Gut?“
„Ich bin Pferdepfleger. Und um es gleich klarzustellen: Davor habe ich im Gefängnis gesessen. Die Leute werden es dir sowieso erzählen, da ist es mir lieber, du erfährst es von mir.“
„Ich konnte es mir denken.“
„Ah – die Leute haben geredet, was?“
„So ist es nicht. Die Leute heißen Volkerts. Sie haben sehr allgemein und durchaus positiv erwähnt, dass ehemalige Strafgefangene auf ‚Drei Eichen‘ leben.“
„Heiratsschwindel und Betrug.“
„Wie bitte?“
„Heiratsschwindel und Betrug“, wiederholt er. „Deswegen habe ich gesessen. Drei Jahre hat man mir aufgebrummt.“ Sein Gesicht wird ernst. „Und ich bin froh um die zweite Chance, die sie mir hier geben.“ Rasch kehrt die Unbekümmertheit zurück. Eine Art Felix-Krull-Charme geht von Sven aus. „Es ist zwar nicht gerade ein Kavaliersdelikt, aber ich bin kein schwerer Junge. Du musst also keine Angst vor mir haben.“
„Das habe ich nicht.“
„Okay.“
Roselyne kann sich leicht ausmalen, dass es Sven mit seiner Ausstrahlungskraft nicht schwerfällt, Frauen für sich einzunehmen. Selbst bei ihr hat er es in wenigen Minuten fertiggebracht, dass sie Sympathie für ihn empfindet.
„Ich tu‘s nicht mehr. Die Sache mit dem Heiratsschwindel meine ich.“
„Oh! Gut.“
„Der Dachdecker meint, ich kann es schaffen, und eine zweite Chance ist dazu da, genutzt zu werden. Genau das habe ich vor.“
„Der Dachdecker?“
„Ich meine Ruben Eichinger.“
Richtig. Ruben lebt auch auf „Drei Eichen“. Und hat somit wohl eine Haftstrafe abgesessen. Weswegen? Und warum nennt Sven ihn den Dachdecker? Da fällt ihr ein, dass sie ihm ihr defektes Haustürschloss präsentiert hat. Nicht besonders beruhigend, findet Roselyne nun.
„Du hast Ruben schon kennengelernt, sagt er“, unterbricht Sven ihre Gedanken. „Dachdecker – den Namen habe ich aus dem Knast übernommen. Bin gerade dabei, ihn mir abzugewöhnen.“
„Wieso haben Gefängnisinsassen eigentlich immer so eigenartige Spitznamen?“
„Das haben sie gar nicht alle“, widerspricht er ihr. „Ich hatte zum Beispiel keinen. Aber es stimmt, dass es typische Bezeichnungen gibt: Knastjargon halt. Sie verweisen meistens auf die Eigenheiten einer Person, verstehst du?“
„Halbwegs.“
„Ein „Sittich“ zum Beispiel ist ein Sittlichkeitsverbrecher. Und ein „Zinker" ist einer, der Mitgefangene bei den Justizbeamten verpfeift – die im Gefängnis-Jargon wiederum „Schließer“ oder „Wachteln“ genannt werden.“
„Aha.“
„Schänzer teilen Essen aus.“
„Das kommt wohl von „zuschanzen“, oder?“
„Genau.“
Mit undurchdringlicher Miene wendet Sven sich ab. „Ruben hat sich um mich gekümmert, nachdem mein Zellengenosse sich weggehängt hat.“ Ein Schatten fliegt über seine Züge. „Hat einfach seinen Gürtel genommen und sich erhängt. War noch ein ganz junger Kerl. Den Anblick werde ich wohl nie wieder los.“
„O mein Gott.“
„Von dem war dort nicht viel zu finden. Aber Ruben war da. Das war mein Glück. Denn im Bau gibt es so gut wie keine Freundschaft. Kaum jemanden, der einem hilft. Wie Ruben. So was vergisst man dann nicht.“
„Nein.“
Sie sind an Roselynes Haus angekommen. Sven fährt sich durch die Haare. Er schaut beinahe so unbekümmert aus der Wäsche wie vor dieser Unterhaltung. Wie viel Anstrengung kostet ihn das? Er steigt wieder in den Sattel. „Tja dann – man sieht sich.“
Mechanisch erwidert sie Svens Abschiedsgruß, mechanisch geht sie zur Tür, mechanisch wühlt sie in ihren Jackentaschen nach dem Schlüssel. Dabei geht ihr auf, dass sie völlig vergessen hat, Sven zu fragen, wieso Ruben „Dachdecker“ genannt wurde und weshalb er im Gefängnis war. Etwa auch wegen Heiratsschwindel? Oder Betrug? Eines Gewaltverbrechens? Vielleicht heißt er „Dachdecker“, weil er über Dächer in fremde Wohnungen eingestiegen ist. Wie in diesem alten Film „Über den Dächern von Nizza“. Mit Grace Kelley und Cary Grant, der den Juwelendieb John Robie alias „Die Katze“ spielte.
Nichts davon kann Roselyne sich wirklich vorstellen.
Sie sucht noch immer in ihren Taschen, findet einen Tankbeleg, ein Päckchen Tempos, Kaugummi und ein paar Münzen. Der Schlüsselring ist jedoch nicht dabei.
Hastig durchwühlt sie ihre Taschen ein zweites Mal. Nichts. Sie muss ihn verloren haben. Mist, verdammter. Sie wird die ganze Strecke wohl oder übel abgehen müssen, und je länger sie hier herumsteht, desto länger wird es dauern. Also trottet sie los.
Sie hat Glück und findet die Schlüssel. Sie liegen wie ein Häufchen Silber auf dem Terrassenfelsen.
Kaum ist sie zurück und hat die Tür hinter sich geschlossen, da merkt sie, dass etwas anders ist. Der Geruch, wie ihr schnell klar wird. Es riecht fremd. Jemand muss sich während ihrer Abwesenheit Zutritt verschafft haben. Bestimmt nicht allzu schwierig bei dem defekten Zylinder, selbst wenn abgeschlossen war.
Besorgt schaut sie sich um.
„He!“ Sie wünschte, ihre Stimme würde sich nicht derart zaghaft anhören. „Ist hier jemand?“
Keine Antwort.
Ohne Luft zu holen, lauscht sie und konzentriert sich auf ihre Umgebung.
Nichts.
Roselyne verflucht bereits im Stillen ihr Gerufe! Das war voreilig. Was, wenn sich jemand im Haus versteckt? Jemand, der nicht ihr Freund ist? Er weiß nun mit Sicherheit, dass sie hier ist!
Eine Schweißperle rinnt ihr träge die Stirn herab, über die rechte Braue und sickert in ihr Auge. Es brennt. Sie zwinkert, bis es nachlässt. Nervös fährt sie sich mit der trockenen Zunge über die noch trockeneren Lippen. Mist, denkt sie wieder. Verdammter Mist.
Roselyne will es nicht tun, aber es gibt keine andere Möglichkeit: Sie muss das Haus durchsuchen. Ihr Blick fällt auf das gusseiserne Kaminbesteck. Ihre Faust umschließt den Schürhaken. Sofort fühlt sie sich weniger wehrlos. Leise geht sie von Raum zu Raum, schleicht danach in die obere Etage, überprüft auch hier alles, kann jedoch niemanden entdecken.
Erst im Schlafzimmer stößt sie auf etwas, das sie beinahe ohnmächtig werden lässt. Der Schürhaken entgleitet ihr. Er kracht auf die Dielen. Aus ihrem Mund kommt ein dünner, hoher Ton, zu kläglich, um ein Schrei zu sein.
Auf dem ordentlich gemachten Bett leuchtet ein weißes Origami im Sonnenschein.
Roselyne taumelt näher.
Sie streckt die Finger danach aus.
Es ist ein Vogel. Unverkennbar!
Roselyne erkennt die Figur wieder. Sie weiß ganz genau, was sie darstellt.
Eine Ammer.
Zeichen

Eigenartig unwirklich hockt die Ammer da. Ein Vogelgeist. Ein Papiergespenst.
Anfangs ist Roselyne wie erstarrt. Aber es dauert nicht lange und ihr Körper zittert, wird geradezu geschüttelt, so unheimlich ist ihr der Anblick.
Vorsichtig berührt sie den gefalteten Vogel. Das Papier raschelt leise, sehr leise, ist warm von der Sonne und keinesfalls eine Einbildung.